Die letzte Seele. Lars Burkart
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Die letzte Seele - Lars Burkart страница 16
Er griff in die Hemdtasche. Statt der Kippen fühlte er nur den samtigen Stoff. Da dämmerte ihm, dass er ja immer noch den Morgenmantel trug. So fängt es an, dachte er. Kann nicht mehr lange dauern, und ich krabbele sabbernd über den Boden und muss gewickelt werden wie ein Kleinkind.
Endlich fiel ihm ein, wo er die Zigarettenschachtel zuletzt gesehen hatte. Keine fünf Minuten später (er qualmte in aller Ruhe) klingelte das Telefon erneut. Obwohl er auf keinen Fall rangehen wollte, näherte er sich dem Apparat mit langsamen Schritten.
Es läutete ein zweites und dann ein drittes Mal.
„Wann schaltet sich gleich noch mal der Anrufbeantworter an?“ fragte er die Wand, an die er sich gerade lehnte.
Es läutete unaufhörlich weiter. Und mit einem Mal (obwohl sein Gehirn noch gar keinen Befehl an seine Hand gegeben hatte) griff er nach dem Hörer.
„Hier Paul. Wer da?“
„Hi, Paul. Ich bin’s.“
Da war sie wieder, diese Stimme. Und er hatte noch immer keinen Schimmer, zu wem sie gehörte. In der ersten Sekunde war er drauf und dran, wieder zu schweigen. Aber er schüttelte den Gedanken ab und entschloss sich stattdessen, einfach mitzuspielen und zu gucken, wohin es ihn führte.
„Du? Das ist aber eine Überraschung, dass du mal anrufst!“ Da er nach wie vor keinen Verdacht hatte, musste er improvisieren. „Wir haben uns ja eine halbe Ewigkeit nicht gesehen!“ So was kam immer gut, da machte er nichts falsch.
Die Leitung war still.
„Äh … nun, genaugenommen waren es nur zehn Tage. Ist bei dir alles in Ordnung? Ich frage nur, weil … na ja, weil du so komisch klingst.“
Autsch, das war nach hinten losgegangen.
„Ich bin nur … Sagen wir’s mal so: Ich bin noch nicht ganz munter, okay?“ Fieberhaft sinnierte er weiter und entschied sich schließlich, mit offenen Karten zu spielen. „Hab wohl gestern etwas zu lange gearbeitet. Du wirst bestimmt lachen, aber momentan fällt mir noch nicht mal dein Name ein. Typischer Fall von Blackout.“
„Mensch, Alter, du brauchst einen Urlaub und einen verdammt guten Seelenklempner! Und am besten beides schon gestern. Wenn es schon so weit gekommen ist, dass du noch nicht mal mehr die Namen deiner besten Freunde weißt, solltest du kürzer treten. Du arbeitest zu viel.“
Wie recht du hast, großer Unbekannter, wie recht du hast.
„Du scheinst wirklich nicht zu wissen, wer ich bin, oder?“
Paul spürte, wie sein Gesicht vor Scham rot anlief. Reiß dich zusammen! Das ist nur ein Telefongespräch! „Nein“, gab er kleinlaut zu, „ich weiß leider nicht, wer du bist.“
„Gib zu, du verarscht mich!“
„Gott bewahre. Ich hab keinen blassen Schimmer.“
„?“
„.“
Der Anrufer schwieg. Er schien zu überlegen, ob Paul ihn verschaukeln wollte.
„Du hast wirklich keine Ahnung?“
„Nicht die Bohne.“
„Das ist traurig, Paul. Das ist verdammt traurig. Aber okay, ich helfe dir auf die Sprünge. Ich höre auf den klangvollen Namen Hackl. Jerome Hackl. Und? Klingelt es bei dir?“
Ja, da klingelte etwas, aber lange nicht so, wie es sich dieser Jerome wohl vorstellte. Pauls rechte Gehirnhälfte versuchte angestrengt, mit der linken zu kommunizieren. Hastig blätterte sie die Bilder in seinen Erinnerungen durch. Jerome? Jerome? Wo versteckst du dich? Wie von Sinnen raste er durch sämtliche Kapitel seines Lebens. Schließlich gelang es ihm, ein Bild von Jerome zu finden. Es lag begraben unter Tonnen von Staub. Es war der Staub, der übrig geblieben war, als Jeannine, dieses Aas, alles zum Einsturz gebracht hatte. Jetzt, da er wusste, wer er war, fiel ihm auch der Rest ein.
„Hi, Jerome“, diesmal klang die Überraschung echt. „Tut mir leid, das Ganze. Du weißt schon.“
„Ja, ja, vergiss es. Ist bei dir alles in Ordnung?“
Sollte er sagen, dass überhaupt nichts in Ordnung war? Dass auch nicht das kleinste bisschen in Ordnung war? Meine Frau hat mich verlassen und hat die Kinder mitgenommen! Ich verkalke langsam, und wenn du wüsstest, wie lange ich rumgerätselt habe, ehe ich wusste, wer du bist, würdest du sofort auflegen und nie wieder ein Wort mit mir sprechen! Und zu allem Überfluss glaube ich noch, den Verstand zu verlieren! All das ging ihm durch den Kopf. Aber er sagte es nicht. Stattdessen packte er diese Gedanken bei den Eiern, schüttelte sie ordentlich durch und schmiss sie in eine dunkle Kammer irgendwo tief im Hirn, wo sie bis auf weiteres vergammeln konnten.
„Mit mir ist alles bestens. Und selber?“
„Jau, Patrizia und den Kindern geht’s prächtig.“
„Na, das ist ja prima.“
Der Neid veränderte seine Stimme um eine Nuance. Hatte Jerome die Veränderung bemerkt? Wusste er etwa, was vorgefallen war? Nein, das war absurd. Oder vielleicht doch? Hatte dieses Luder von einer Frau bei ihm angerufen, damit er wiederum bei ihm anrief, um zu erfahren, wie’s ihm ging? Nein, das war lächerlich. Sie hat mich verlassen, da interessiert es sie bestimmt einen feuchten Scheiß, wie es mir geht. Das ist nur Wunschdenken meines verletzten Egos.
„Könnt ihr beiden es heute Abend nun einrichten?“
Was, zum Teufel, stand heute Abend auf dem Programm? Er wusste es nicht mehr und wappnete sich für eine neuerliche Attacke, bei der seine Erinnerungen durcheinandergewirbelt würden wie die Blätter in einem Herbststurm.
„Du hast es nicht vergessen, oder? Du weißt noch, dass wir heut Abend 'ne Party geben, ja? Patrizia wollte, dass ich euch anrufe und euch noch mal daran erinnere. Sie hofft, ihr könnt es einrichten. Und ich sagte, natürlich können sie es einrichten, schließlich bist du einer meiner engsten Freunde. Aber sie sagte, ruf trotzdem an. Also rief ich an. Kennst sie ja.“
Paul hatte Mühe, Jerome gedanklich zu folgen. Die Menge der Wörter, die auf ihn einstürzten und das Tempo, mit dem sie durch den Hörer jagten, verblüfft ihn.
Party.
Heute Abend.
Okay, okay, soweit hatte er es auf die Reihe gekriegt.
Jerome plapperte munter weiter.
„Ihr kommt also, ja? Wäre echt schade, wenn nicht. Wird bestimmt lustig. Wir grillen, und die Weiber können nach Herzenslust tratschen.“
„Ich tratsche nicht.“
Die Stimme war leise. Paul vermutete, dass sie Patrizia gehörte.
„Sag ihm bitte, dass sie einen ordentlichen Durst mitbringen sollen! Kannst du das machen?“ Die Vermutung schien richtig zu sein.
„Ich