Die letzte Seele. Lars Burkart
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„Er hat’s verstanden“, gab Jerome weiter.
„Fein. Dann bis heute Abend!“
„Bis heute Abend“, sagte auch Jerome und legte auf, ehe Paul protestieren konnte.
Uff. Watt `n nu?
Jetzt habe ich aber gehörig in die Scheiße gegriffen, verflixt und zugenäht! Wie komm ich da nur wieder raus? Vielleicht ist es besser, ihn anzurufen und ihm die Wahrheit aufzutischen? Ich glaube, er verdient sie. Die Frage ist nur, ob ich dazu imstande bin. Eher nicht. Vergessen wir das lieber. Also gut, und was bleibt mir übrig?
Nach reiflicher Überlegung entschied er, hinzufahren. Wollen mal sehen, wie sich alles entwickelt. Früher oder später werden sie es ohnehin erfahren. Und ich werde wesentlich besser dastehen, wenn ich den Zeitpunkt dafür bestimme. Während des Gesprächs hatte er befürchtet, Jeannines ständige Präsenz könnte ihn zerbrechen. Seltsamerweise geschah genau das Gegenteil: Er erfreute sich bester Laune, und das Gespräch schien sie sogar noch verbessert zu haben. Ein über alle Maßen entzückender Tag war das heute. Oh ja, das war er. Und wie er das war! Paul fühlte sich verdammt gut. Er hätte Bäume mitsamt Wurzeln ausreißen können. Und das Beste: Er spürte, dass er den Zenit noch nicht erreicht hatte.
Er stöpselte das Mobilteil in die Ladestation, registrierte, dass das Akkuzeichen aufleuchtete und stimmte eine fröhliche Melodie an. Er pfiff sowohl laut als auch falsch. Eine Melodie zu halten war noch nie seine Stärke gewesen. Und irgendwann kam ihm die phänomenale Idee, die Stereoanlage wieder so weit aufzudrehen, bis die Wände wackelten. Schon donnerte, einem Güterzug gleich, Motörhead mit „Orgasmatron“ durch das Wohnzimmer.
Ist das Leben nicht herrlich, fragte Paul sich, während eine Zigarette in seiner Hand qualmte.
Das Arbeitszimmer sah anders aus, als er es in Erinnerung hatte. Als hätte eine Bombe eingeschlagen. Die Sonne beleuchtete ein Kauderwelsch aus herumliegendem Trödel. Der Teppich war über und über mit Schnipseln besäht. Erst bei näherem Hinsehen sah Paul, dass es sich um seine eigenen Manuskripte handelte. Er hatte schon immer die Angewohnheit gehabt, die Romane, die er beendet hatte, für sich selbst auszudrucken. Er war da sentimental. Für ihn war es wichtig, sie daheim in seinem Arbeitszimmer unter einer Glasvitrine zu wissen.
Wenn er von dem Tohuwabohu nicht so überrascht gewesen wäre, hätte er vielleicht sogar die Zeit erübrigt, um die Blätter zu trauern. Da dem nun aber nicht so war, ließ er es und starrte im Zimmer umher.
Es sah aus wie nach einem Inferno. Aber da weder das Fenster zertrümmert noch die Tür ausgehebelt war, musste er selbst es gewesen sein. Und falls dem so war, war es ihm perfekt gelungen, es aus seinem Gedächtnis zu streichen.
Paul ließ seine Augen noch ein wenig über das Chaos streifen. Nicht nur Manuskripte bedeckten den Teppich. Nein, da lagen auch Dinge herum, die gar nicht ins Arbeitszimmer gehörten: Unterwäsche, dreckige und saubere, aber auch Klamotten, die Jeannine gehört hatten und die sie entweder vergessen hatte oder schlicht und einfach nicht mehr haben wollte. Letzteres konnte er sich allerdings nur schwer vorstellen. Schließlich war sie eine Frau, Junge, Junge, und was für eine! Und die haben nun mal diesen seltsamen, tief in ihren Genen verankerten Faible für alles, was man anziehen kann.
Was ihn am meisten schmerzte, war nicht der Anblick der Wäsche, sondern die Palme, die aus dem Topf gerissen und schon halb vertrocknet war. Die Manuskripte waren auf der Festplatte und brauchten nur wieder ausgedruckt zu werden. Aber die Palme war etwas, was ihm ans Herz gewachsen war. Paul hatte sie während ihres ersten gemeinsamen Urlaubs in der Karibik gekauft. Sie stand eingepfercht in einen viel zu kleinen Topf, war kaum höher als zwanzig Zentimeter, und der Händler hatte zehn Dollar achtzig dafür haben wollen. Paul hatte den Preis auf sagenhafte Sechsfünfzig heruntergeschraubt.
Nun begann eine wahre Odyssee. Da er die Palme schon zu Beginn des Urlaubes gekauft hatte, musste sie noch zweieinhalb Wochen im Hotelzimmer überleben. Und da begann der Kampf. Jedes Mal, wenn das Zimmermädchen saubermachen wollte, musste er sich heldenhaft vor ihr aufbauen. Sie wollte dieses Stück vertrocknetes Unkraut hochkantig aus dem Zimmer schmeißen. Und da der Zimmerservice immer zu unterschiedlichsten Zeiten eintrudelte, wiederholte dieses Schauspiel sich täglich. Bis zum Tag der Abreise war es ihm gelungen, seinen Schützling zu beschützen. Dann aber wurde es haarig: Zwei Überfahrten mit dem Schnellboot standen an, und danach ein Flug von zehn Stunden. Wohin mit dem kleinen Wicht? In die Reisetasche? Um Himmels Willen, bloß nicht!
Paul hatte, bevor er ernsthaft Schriftsteller wurde, auf einem Flughafen seine Brötchen verdient. Das befähigte ihn zu der Erkenntnis, dass die Reisetasche der denkbar schlechteste Ort war. Vor seinem geistigen Auge sah er bergeweise Koffer, die unter Zeitdruck hierhin und dorthin geworfen wurden: vom Transportband in den Flieger, vom Flieger wieder zurück aufs Band. Wohin aber dann? Etwa in den Rucksack? Keine schlechte Idee. Leider war der schon mit Videokamera, Fotoapparat, Flugtickets, Geldbörse und anderem Pipapo überfüllt. Nach stundenlangem Hin und Her (und nicht wenig zänkischem Gezeter Jeannettes) entschloss er sich schließlich, seinen Schützling einem dieser sauteuren weltweiten Zustelldienste anzuvertrauen.
Die Übergabe ging ja noch: Adresse angeben, Knete rausrücken, alles halb so schlimm. Aber das Warten danach! Zur Untätigkeit verdonnert, war es für ihn wie ein Marsch barfuß über glühende Kohlen. Und dabei immer diese Ungewissheit: Wird sie den Transport überstehen? Wird sie nicht vertrocknen? Die Zeit, bis das Paket endlich eintrudelte, war reine Folter.
Aber irgendwann trudelte sie ein. Jetzt würde sich zeigen, ob die Mühe sich gelohnt hatte. Paul balancierte das Paket wie eine Schüssel mit rohen Eiern. Er betete inbrünstig, jeder, der seine Finger an dem Karton gehabt hatte, möge sich nach den Aufklebern „Nicht werfen!“ und „Nicht schütteln!“ gerichtet haben. Behutsam öffnete er das Paket. Neben ihm stand eine Gießkanne, randvoll mit Wasser.
Als er die Palme dem Zustelldienst anvertraut hatte, war seine Überlegung folgendermaßen gewesen: Sie hat eine Chance, den Transport unbeschadet zu überstehen, wenn es mir gelingt, sie in einen schützenden Kokon aus Styropor einzumauern. Nach einigen diesbezüglichen Versuchen, die ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben hatten, gelang es ihm schließlich, sie so zu verpacken, dass er es verantworten konnte, sie wegzuschicken. Vorsichtig schaufelte er die Styroporflocken beiseite und legte nach und nach die Pflanze frei. Bis jetzt machte es den Anschein, dass es ihr gutging. Behutsam hob er sie aus dem Karton und begutachtete jedes Blatt. Er sah dabei aus wie ein General, der, über die Landkarte gebeugt, über einer komplizierten Kriegsstrategie grübelte. Der Transport hatte nur drei Tage gedauert, und Paul, hatte alles ihm Mögliche getan. Jetzt, in den nächsten Tagen und Wochen, würde sich entscheiden, ob seine Mühe sich gelohnt hatte. Paul platzierte sie an einer sonnenverwöhnten Stelle, knipste die extra dafür gekaufte Rotlichtlampe an und zwang sich, ihr die nötige Zeit zu geben, um sich einzugewöhnen.
Das war nun schon Jahre her, und in all dieser Zeit war es ihm gelungen, die Pflanze nicht nur aufzupäppeln, sondern auch größer und kräftiger werden zu lassen.
All das ging ihm durch den Kopf, als er jetzt die Überreste seines Schützlings auf dem Schreibtisch liegen sah. Er hatte Herzblut in die Pflege dieser Pflanze gesteckt und sich selbst mehr als einmal dabei ertappt, dass er mit ihr redete – etwa so, wie ein Hundebesitzer mit seinem vierbeinigen Begleiter redet. Der Hund kann nichts erwidern, aber er ist da, wenn man ihn braucht. Das macht ihn zu einem Freund. Und genau das war die Pflanze für Paul gewesen.
Aber nicht nur die Palme, auch das Aquarium war ein Opfer der Gewalt geworden. Auch das hatte er gehegt und gepflegt, und jetzt war es ein Trümmerhaufen. Langsam verwandelte seine Traurigkeit sich in Wut, und da alles darauf deutete, dass er selbst der Übeltäter war, war er kurzerhand