Die letzte Seele. Lars Burkart
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Читать онлайн книгу Die letzte Seele - Lars Burkart страница 6
Die Verbindung riss kurz ab; Paul befand sich wieder in der wirklichen Welt, im Hier und Jetzt. Er war über die Bilder, die er gesehen hatte, geschockt, aber er wusste, was sie bedeuteten. Er begriff zwar nicht, wie, aber er wusste, dass er einen Blick in die Vergangenheit geworfen hatte. Und darüber war er schockiert, weil es das intensivste Gefühl war, das er je erfahren hatte. Gleichzeitig war es aber auch angenehm. Weil er sich genau erinnerte, was an jenem Tag noch alles gewesen war, umspielte ein Lächeln seine Lippen. Wie um ihm das zu bestätigen, flimmerte vor seinem geistigen Auge nun die Fortsetzung des Films (Ende des Werbeblocks – kommt vom Klo zurück, Herrschaften!).
Die Jugendlichen machten einen Lärm, als zöge ein Bataillon in die Schlacht. Es waren Pauls Jugendfreunde. Und er tummelte sich mitten unter ihnen. Nur eben vierundzwanzig Jahre jünger. Amüsiert registrierte er, wie aus seiner modischen Drei-Haare-Frisur, wie er sie scherzhaft nannte, wieder ein dichter Schopf geworden war. Die Unterhaltung wurde mit jedem Schritt lauter. Der Wind trug die Stimmen heran. Schnellen Schrittes liefen sie die Anhöhe hinunter und gackerten.
Paul wusste, wo sie hinwollten. Und er wusste auch, was an diesem Abend noch alles geschehen würde. Er stand da, mitten auf dem Feld, bis zu den Hüften im Korn, und beobachtete alles fasziniert. Es war ein Déjà-vu, aber gleichzeitig auch viel mehr als das. Es war viel realer, greifbarer, intensiver. Es schien gerade erst zu passieren. Nicht nur ein Kapitel aus der Vergangenheit, sondern so real und tatsächlich, wie es nur sein kann.
Paul holte Luft und versuchte das Wunder zu begreifen. Er roch das Getreide und den Duft des Sommers, sah den ehemaligen Freunden zu, die schon so nah waren, dass er mühelos ihre Gesichter erkennen konnte. Sie trugen die modischen Frisuren, die damals, Ende der Siebziger und Anfang der Achtziger, der letzte Schrei gewesen waren.
Langsam setzte auch Paul sich in Bewegung. Er wollte den Anschluss an die Gruppe nicht verlieren. Er lief durch den Weizen, beschleunigte seinen Schritt, rannte fast, wobei die Ähren gegen ihn klatschten. Dann sprang er auf den Weg und schaffte es gerade noch, sich vor der Gruppe aufzubauen. Es war unfassbar, er stand keine fünf Meter vor ihnen und konnte jede Regung in ihren Gesichtern sehen. Er wollte sie ansprechen, sie fragen, wohin sie gingen.
Sie kamen näher. Paul streckte den Arm aus, wollte einen von ihnen an der Schulter berühren. Doch der Arm glitt einfach durch ihn hindurch, und sie liefen an ihm vorbei. Damit hatte er nicht gerechnet, obwohl es vielleicht zu erwarten gewesen war. Schließlich war es nicht real. Es waren nur Geister, Gespenster, Illusionen aus der Vergangenheit. Paul schüttelte sich, als wolle er eine Kälte auf seiner Haut abschütteln. Dann lief er eilig hinter ihnen her.
Er blieb etwa auf ihrer Höhe, um kein Wort zu verpassen.
Und dann tat er etwas, was er weder geplant noch bedacht hatte: Er kniff die Augen zusammen, hielt den Atem an und lief durch die Gruppe hindurch. Warum er das tat, wusste er nicht. Er vermutete, dass es intuitiv geschah. Abermals griff Kälte nach ihm, doch intensiver als ein Windhauch. So mussten sich die Stürme auf der Venus anfühlen. Nicht nur die Kälte irritierte ihn. Er hatte für einen Moment den Eindruck, den Boden unter den Füßen zu verlieren, zu fliegen. Dann war es auch schon wieder vorbei, und er war durch sie hindurch.
Paul drehte sich um, öffnete die Augen und sah sich verdattert um. Er lief jetzt vor ihnen her; ihre Stimmen im Rücken hatten nichts von ihrer Fröhlichkeit eingebüßt. Er entschied sich, rückwärts zu gehen. Das war zwar einerseits beschwerlich, andererseits aber konnte er so wenigstens die Gesichter sehen, von denen er die meisten seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Während er das tat, versuchte er sich an die Namen zu erinnern und war entsetzt, dass es ihm nicht gelang. Waren vierundzwanzig Jahre denn eine so lange Zeit?
Ihn beschlich ein schlechtes Gewissen. Ehe er sich davon ablenken lassen konnte, besann er sich und kam zu der Erkenntnis, dass es vielleicht normal war. Wer weiß, vielleicht erginge es den anderen, träfe er sie im realen Leben, ebenso? Er konzentrierte sich wieder auf die lärmende Meute vor ihm und war bemüht, höchstens zehn Schritte Abstand zu ihnen zu haben, um ihre Gesichter zu sehen. Er wollte die jugendlichen Gesichter in sich aufsaugen; wie ein Vampir das Blut seiner Opfer in sich aufsaugt, wollte er den Anblick der Jugend in sich aufnehmen.
Zwei Mädchen (sie sahen noch jünger aus als der Rest) kreischten angeekelt, als zwei Jungen, die vor ihnen liefen, ihre Hosen herunterließen und ihnen ihre nackten Hinterteile präsentierten. Der Rest kreischte so laut, dass das Kreischen der Mädchen darin fast unterging.
Es dauerte eine gewisse Zeit, bis es langsam wieder abebbte. Ein Junge, er trug einen Dreitagebart (wenn man den Flaum auf seiner Oberlippe so nennen wollte) sagte grinsend, als müsse er gleich wieder losbrüllen: „Oh Mann, oh Mann, hat einer von euch diesen Megapickel auf der Arschbacke gesehen? Das Ding war so riesig, dass er schon einen eigenen Mond hatte, der in einer Umlaufbahn um ihn kreiste. Igitt, wenn ich nur dran denke, muss ich kotzen!“
Wieder lachten alle. Sogar die beiden Mädchen.
„He, Jan“, schrie ein zweiter spöttisch, „ich will ja nicht in deiner Nähe sein, wenn die Dämme brechen! Der ist imstande und spült uns weg!“
Das Gelächter wurde noch lauter, und die Gesichter liefen rot an wie Hummer im Kochtopf. Nur eines nicht. Es wirkte vielmehr wie versteinert. Aha, kombinierte Paul, wenn mich nicht alles täuscht, ist der Bengel mit dem säuerlichen Gesichtsausdruck da besagter Jan und somit rechtmäßiger Besitzer des mächtigsten Pickels unter der Sonne. Auch Paul grinste, allerdings nicht halb so breit wie die anderen. Wahrscheinlich bin ich einfach zu alt für diese Scheiße, dachte er.
Das Gelächter schwoll immer mehr an, und der Junge, der den Grund dieses Freudenfeuerwerkes auf dem Arsch trug, es sozusagen ausgebrütet hatte, schien den Tränen nahe zu sein. Er stand da wie ein Häufchen Elend. Die Schultern hingen schlaff an ihm herunter, und seine Hände fuhren immer wieder über den Stoff seiner Hose. Die anderen konnten sich immer noch nicht beruhigen, und so bemerkte keiner von ihnen, dass ihm schon die erste Träne die Wange herunterlief. Das Licht der untergehenden Sonne reflektierte sich in ihr, und kurz meinte Paul, einen Regenbogen in ihr zu sehen. Den Bruchteil einer Sekunde lang sah er ein ganzes Farbspektrum in der Träne.
Vier oder fünf Minuten später war der Witz verflogen, und das Gelächter senkte sich langsam auf einen erträglichen Level. Und Jan heulte wie ein Schlosshund.
Jetzt erst bemerkten es die anderen und hielten inne. Sie näherten sich ihm, und die so plötzlich aufgetretene Stille war direkt unheimlich. Aber das war nur ein Moment, denn noch ehe man die Ruhe richtig begreifen konnte, wurde sie von einem herzzerreißenden Jammern unterbrochen. Die anderen sahen einander ratlos an, zuckten mit den Schultern und fragten sich flüsternd, was für eine Laus ihm über die Leber gelaufen war. Als sie schließlich bei ihm standen, wurde sein Jammern leiser, brach aber nicht ab.
Einer legte den Arm auf seine Schulter (Paul sah, dass er selbst derjenige war, der es tat) und fragte ihn: „Was ist mit dir?“
„Ich … ich … ich … ihr Arschgeigen macht euch immer über mich lustig!“ Jan schluchzte wieder.
„Was?“, fragte der vierundzwanzig Jahre jüngere Paul verdutzt, „und deshalb heulst du wie ein Weib?“
„Nana, ich muss doch bitten“, protestierte ein Mädchen. „Von uns hier jammert keine!“
Paul verdrehte die Augen. „Ach, vergiss es einfach.“