Die letzte Seele. Lars Burkart
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Zu den Schuhen gesellte sich jetzt eine Blue Jeans. Er ließ den Blick höher wandern und sah lange nur Hosenbeine. Wie wohl die Beine darunter aussahen? Endlich war sein Blick höher gewandert, unterhalb der Taille. Oh ja, es handelte sich zweifelsfrei um ein Mädchen, und um was für eins, Junge, Junge! Saftige straffe Schenkel, schöne lange Beine! Kerl, reiß dich zusammen! Reiß dich bloß zusammen!
Er ließ den Blick weiter aufwärts wandern. Das Mädchen trug ein rotkariertes Holzfällerhemd, dessen Ärmel hochgekrempelt waren. Nun wusste er endlich, wer sie war, und vor Überraschung schluckte er erneut. Auch diese verdammte Unsicherheit war plötzlich wieder da. Dafür schien seine Fähigkeit, sich zu bewegen, verschwunden zu sein. Er kauerte auf dem Barhocker, hatte den Blick auf ihr Dekolleté gerichtet und bemerkte entzückt, dass die obersten zwei Knöpfe offen waren. Paul wusste, dass es ein dämliches, vor allem unhöfliches Benehmen war, so zu starren. Es war ihm aber einfach nicht möglich, wegzusehen. Seine Halsmuskulatur verweigerte ihm den Dienst.
„Hast du inzwischen gefunden, wonach du gesucht hast?“
Die Stimme klang freundlich, und obwohl die Besitzerin genau wusste, wohin er seinen Blick gerichtet hatte (sie hätte schon so blind sein müssen wie ein Maulwurf, um es zu übersehen), schien sie keineswegs erbost. Ja, es klang sogar fast ein wenig so, als wäre sie amüsiert. In Pauls Mund lief der Speichel zusammen. Literweise. Hektoliterweise. Ein ganzer Ozean. Zumindest fühlte es sich so an. Er drohte daran zu ersticken und kam nicht mehr mit dem Schlucken hinterher. So konnte er nie und nimmer etwas sagen. Bei diesen Mengen würde er ihr eine Dusche verpassen, bei der ihr alles verginge. Sogar die Hilfsbereitschaft.
„Du scheinst mir ja ein richtiger Draufgänger zu sein, was? Ich hoffe, dass ich mit dir mithalten kann.“ Die Besitzerin der Stimme kicherte. „Wie bitte? Du fragst, ob du mir einen Drink spendieren darfst? Aber hallo, da sage ich doch nicht nein!“
Paul stöhnte. Seine Beine hatten mittlerweile die Konsistenz von Gelatine. Alles an ihm zitterte wie Laub im Herbstwind. Noch nie zuvor war er sich so hilflos vorgekommen – und gleichzeitig so überschwänglich glücklich.
„Hi, ich bin Jeannine. Und du?“
Ihre Stimme klang warm, weich. Als sänge ein wunderschöner Vogel nur für ihn. Er war außerstande, zu antworten. Es war nun schon das zweite Mal an diesem Tag, dass er vor Scham am liebsten im Erdboden versunken wäre.
„Sag mal, hast du Genickstarre oder so was? Oder was gibt’s da unten zu sehen?“
„Ich … ich …“ Sein Mund schloss sich wieder. Hatte er etwas gesagt? War das seine Stimme gewesen, die da gerade Perlen der Weisheit von sich gegeben hatte?
„Na, das war schon ein Anfang. Wer weiß, vielleicht sprichst du ja in ein paar Jahren schon erste zusammenhängende Sätze? Ich wette, mit Übung brichst du jeden Rekord! Und erst dein Vater, Junge, Junge, Junge, der muss vor Stolz ja platzen!“
Obwohl Paul diese Neckereien durchaus in den falschen Hals hätte kriegen können, war er keineswegs sauer. Im Gegenteil – ihre freche, offene Art amüsierte ihn. Er grinste sogar.
„Ja, was ist denn das? Was müssen meine entzündeten Augen da sehen? Oh Gott, oh Gott, das kann ja gar nicht sein!“ Sie schwieg einen Moment, um sich eine Zigarette anzuzünden. „Es bewegt sich, also lebt es! Ist das zu fassen? Dass ich das noch erleben darf! Mir kommen die Tränen!“ Mit einer theatralischen Handbewegung wischte sie sich übers Gesicht.
Erst als er den Sinn ihrer Worte verstand, bemerkte er, dass er langsam den Kopf hob. Es konnte höchstens eine oder zwei Sekunden gedauert haben, bis er direkt in ihre Augen sah. In dieser kurzen Zeit stürzte alles auf ihn ein mit der Stärke eines Tornados. Die Musik war plötzlich viel zu laut und die Beleuchtung zu grell. Komischerweise lächelte ihr Mund. Ein freundliches Lächeln. Und auch ihre Augen strahlten.
„Ich sehe schon“, sprach sie weiter (und links unter ihrer Unterlippe hüpfte ein kleiner Leberfleck bei jedem Wort auf und ab), „ich muss mein Bier selbst bezahlen.“ Sie drehte sich zum Barkeeper und schnippte mit dem Finger. Es dauerte keine zwei Sekunden, und er kam angewetzt. Ist das nicht ulkig, ging es Paul durch den Kopf, hübsche Frauen werden prompt bedient, und unsereins steht sich die Beine in den Bauch. Sie wollte gerade ihren Mund öffnen und die Bestellung aufgeben, da riss bei Paul endlich der Knoten. Mit selbstbewusster, sicherer Stimme, als sei er Moses persönlich, sprach er: „Ein Bier, ein Diesel und zwei Whiskey. Und das Ganze ein bisschen hastig.“
Er war erstaunt. Noch vor wenigen Sekunden hätte er nichts herausbekommen als Gestotter und jetzt das. Das war ja eine Wendung um glatte hundertachtzig Grad, Glückwunsch!
Aber noch war sein Leidensweg nicht beendet. Denn einen Moment lang war Paul überzeugt, der Barkeeper würde ihm erst einen Vogel und dann die kalte Schulter zeigen. In diesem Falle wäre sein neugewonnener Mut auf tragische Weise verunglückt. Nicht auszudenken, wie er dagestanden hätte – blamiert bis auf die Knochen. Sie würde ihn auslachen und ihn dann, ohne eines weiteren Blickes zu würdigen, abservieren.
Der Barkeeper zögerte einen Moment. Doch dieser Moment reichte, um Paul Schweißperlen auf die Stirn zu treiben und ihm eine Gänsehaut den Rücken hinunterlaufen zu lassen. Er schien zu überlegen, ob er, Paul, es wert sei, sich seinetwegen die Finger schmutzig zu machen. Schließlich entschied er sich dagegen – nicht zuletzt vielleicht, weil Blutflecken immer so schlecht aus der Kleidung zu bekommen sind. Er drehte sich um und dackelte in aller Ruhe zum Zapfhahn. Auch sie schien beeindruckt zu sein, allerdings nicht halb so sehr wie Paul selbst.
„Also, mein Held. Da mir nun die Ehre zuteil wird, mit dir einen heben zu dürfen, verrätst du mir bestimmt auch deinen Namen?“
„Paul.“
„Und weiter?“
„Wie, und weiter?“
„Hast du keinen Familiennamen?“
Verdammt, was bin ich nur für ein Trottel? Ich scheine den Mount Everest auf meiner Leitung geparkt zu haben. Aber, Scheiße auch, sie sieht so unglaublich süß aus. Kein Wunder, dass einem da die Sicherungen durchbrennen, wenn man in diese Augen sieht. Und dieser Körper, Mann oh Mann, selbst angezogen ist der echt ’ne Wucht in Tüten! Ich hab schon ganz feuchte Hände. Hoffentlich fang ich nicht noch an zu sabbern …
„Ritter.“
„Na siehst du. War doch gar nicht so schwer, oder?“
Paul verkniff sich die Antwort. Er bezweifelte ohnehin, etwas Gescheites herauszubekommen.
Auf einmal herrschte Schweigen. Doch sie schien auf etwas zu warten. Auf was nur? Paul zerbrach sich den Kopf. Er wollte und musste unbedingt wissen, worauf! Unzählige Vermutungen stürzten auf ihn ein und verschwanden wieder. Sein Herz klopfte wie ein Presslufthammer, und die Schläge dröhnten ihm bis in die Ohren. Seine Zunge schien zu einem Stück Sandpapier geworden zu sein, hing trocken und aufgedunsen in seinem Mund. Immer mehr beschlich ihn die Gewissheit, aus allen Poren zu schwitzen. Sein gesamter Körper schien bedeckt von einem klebrigen Schweißfilm. Es lief ihm sogar schon in die Augen. In den Schuhen schien sich ein kleiner Teich gesammelt zu haben, und so wie es sich anfühlte, wateten die Füße klitschnass darin herum. Und seine Hände sahen aus, als hätte er ein Vollbad hinter sich. Die Haut war schrumpelig und