Die letzte Seele. Lars Burkart

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Tränen, die geweint werden mussten. Außerdem hegte er die vage Hoffnung, dass mit ihnen auch ein Teil des Schmerzes herausgespült würde.

      Doch irgendwann waren auch diese Tränen versiegt, und langsam trottete er aus dem Schlafzimmer. Er ging in die Küche, steuerte in Richtung Kühlschrank, öffnete die Tür und erschauerte kurz, als die kalte Luft die Haare an seinen Beinen berührte. Dann nahm er die zweite Flasche Whiskey. Die darf ich nicht zerdeppern, sonst sitze ich auf dem Trockenen.

      Wenige Minuten später stand Paul im Arbeitszimmer und starrte auf den Schreibtisch. Das Notebook war aufgeklappt, aber am liebsten hätte er es gegen die Wand gefeuert. Er konnte nicht mehr verstehen, dass er so viele Stunden, in denen seine Ehe den Bach hinuntergegangen war, vor ihm gesessen und wie ein Besessener gearbeitet hatte. Er nahm einen tiefen Schluck, genoss das Brennen und klappte den Bildschirm mit einer einzigen Bewegung herunter. Dabei kam ihm in den Sinn, dass das zu spät war, dass er es schon früher hätte tun sollen. Er kläffte sein Gewissen an, dass das unwichtig sei und es gefälligst sein dämliches Maul halten sollte. Arschloch, verdammtes, fügte er in Gedanken hinzu. Paul stockte eine Sekunde und fing wie irrsinnig an zu lachen. Wow, dem hast du’s aber gegeben, das muss dieser verdammte Schweinehund erstmal verdauen, was?

      Er ließ sich rücklings auf den Drehsessel fallen, warf die Beine auf den Tisch, kickte das Notebook weg und starrte ihm hinterher, als hätte er noch nie in seinem Leben ein solches Ding zu Gesicht bekommen. Was kann das nur sein? Man kann es auf- und zuklappen, und dann hat es auch noch so viele Knöpfe mit so komischen Zeichen darauf. Oh, das ist aber ungeheuer spannend, ist es. Ja, du verdammtes Mistding, du bist an allem schuld! Wegen dir ist mein Leben jetzt ein Trauermarsch!

      Das ging ihm durch den Kopf, als es scheppernd auf dem Boden aufschlug. Ob es dabei demoliert wurde, ging ihm am Arsch vorbei. Und auch über diese Gleichgültigkeit meinte er sich fast kaputtlachen zu müssen.

      Paul hoffte inständig, sein Heiterkeitsausbruch würde eine Weile andauern. Doch schon während er noch dafür betete, verabschiedete sich der kurze Moment schon mit Pauken und Trompeten und hinterließ nur wieder diese düstere, traurige Leere. Langsam rannen Tränen über seine Wangen.

      Wie lange saß er nun schon so da? Die Beine auf dem Tisch, tief im Schreibtischsessel versunken und die Augen starr zur Zimmerdecke gerichtet? Zehn Minuten? Eine Stunde? Oder vielleicht zwei? Er konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Aber es musste schon ziemlich lange sein, denn als er Anstalten machte sich aufzurichten, kribbelten seine Beine, als spaziere er mit kurzen Hosen durch ein Brennnesselfeld. Er stöhnte. Seine Tränen waren inzwischen getrocknet, aber ihm war bewusst, dass sie noch lange nicht versiegt waren. Er blickte sich langsam um und sah noch etwas anderes. Falls er zu diesem Zeitpunkt noch Zweifel gehegt hatte, lange weggetreten gewesen zu sein, waren diese nun widerlegt. Denn es war schon fast dunkel. Es mussten Stunden gewesena sein.

      Paul kämmte mit der Rechten sein dünnes Haar, und jetzt machten sich die ersten Wehen eines herannahenden Kopfschmerzes bemerkbar. Und da er auch verdammt durstig war, nahm er schnell noch einen Schluck aus der Pulle, der nun aber gar nicht mehr so gut schmeckte. Der Whiskey hatte jetzt Zimmertemperatur, und da kann man mit alkoholischen Getränken viel machen, sich zum Beispiel die Füße damit waschen, aber auf keinen Fall sollte man sie noch trinken. Kein Mensch säuft so eine Plärre, wenn sie warm ist wie Ochsenpisse – es sei denn, man ist hemmungsloser Alkoholiker. Obwohl Paul genau das durch den Kopf ging, setzte er die Flasche erst ab, als sie leer war. Scheiß auf den schlechten Geschmack! Scheiß auf alles! Hauptsache, es knallt ordentlich!

      Während er so dasaß, den Alkohol wirken ließ und versuchte, seine morschen Knochen wieder zum Leben zu erwecken, sah er, dass sein Notebook eigenartigerweise genau an der Stelle stand, wo es gestanden hatte, bevor er es mit einem saftigen Tritt zu Boden geschleudert hatte. Später meinte er, sich vage daran zu erinnern, dass er sich gefragt hatte, wie das verdammte Drecksding bitteschön wieder auf den Tisch gekommen war.

      Seine Arme und Beine kribbelten, als liefen Milliarden Ameisen darüber hinweg. Nach und nach verschwand dieses unangenehme Gefühl aber wieder, und dadurch bekam der andere Schmerz wieder Raum, um ihn zu peinigen: der Schmerz über den Verlust seiner Frau. Und im Gegensatz dazu war ihm das Kribbeln wesentlich lieber.

      Die Uhr an seinem Handgelenk verriet ihm, dass es inzwischen zehn vor zwölf war. An einem normalen Tag wäre er jetzt schon seit einer Stunde im Bett gewesen. An einem normalen Tag hätte er fünf bis zehn Seiten geschrieben und wäre dann in den Tennisclub gefahren. Oder er hätte sonst irgendetwas gemacht. Aber heute war kein normaler Tag, nicht mal ein halbwegs normaler. Er hatte weder gearbeitet noch die Zeit sonst sinnvoll genutzt. Und da heute ohnehin schon alles durcheinander war, verzichtete Paul darauf, pünktlich zu Bett zu gehen und entschied sich vielmehr, in der Kneipe noch einen trinken zu gehen.

      Das Hin- und Zurückkommen würde kein Problem sein. Er würde einfach über das Feld gehen und bis zur Stadt laufen, eine Sache von dreißig Minuten. Ein einfacher Weg mit dem Vorteil, dass er nicht Auto fahren musste. Denn dazu war er nicht mehr in der Lage.

      Als Paul am nächsten Tag erwachte (es war bereits weit nach Mittag), fand er sich mit dem Kopf am Fußende seines Bettes wieder. Er fühlte sich hundeelend. Soweit er sich daran erinnern konnte, hatte er in der Kneipe ordentlich einen über den Durst getrunken. Er hatte sich das Spezialgetränk des Hauses mixen lassen. Er konnte zwar kaum die Hälfte der Zutaten aussprechen, aber dennoch hatte er sich einen halben Liter davon kommen lassen und war mit dem Glas in der Hand unter den neugierigen Blicken des Barkeepers in eine dunkle Ecke verschwunden.

      Das Glas war voll bis zum Rand und verströmte einen eigenartigen Geruch, scharf und brennend. Einer von diesen Gerüchen, bei denen einem schon die Augen tränen, wenn man nur nahe an sie herankommt. Paul wusste nur zu gut, dass es hochprozentiges Zeug war, das einem durchschnittlich begabten Trinker schnell das Genick brechen konnte. Aber er war noch nicht einmal ein durchschnittlicher Trinker. Wenn er einmal im Monat einen doppelten Whiskey oder eine Flasche Bier trank, war das schon viel.

      Gedankenverloren blickte er in das Glas und beobachtete sein Gesicht, das sich in der dunklen Flüssigkeit spiegelte. Er konnte alles erkennen: die Fältchen um die Augen, die kleine Narbe in der rechten Braue, die er sich zugezogen hatte, als er als Kind beim Spielen gegen eine Wäscheleine gelaufen war, die Nase, die seit einer Klopperei während der Schulzeit (Gott, ist das lange her. Ich weiß gar nicht mehr, worum was es da ging … bestimmt um ein Mädchen. Es geht ja immer um Mädchen) ein paar Beulen und Unebenheiten trug. Leider konnte er auch seine Augen sehen, die vom Weinen rot und verquollen waren.

      Er griff in die Hemdtasche, wo er die Zigaretten aufbewahrte. Er öffnete sie, fingerte ungeschickt eine heraus, steckte sie in den Mund und zündete sie an.

      Der Rauch drang in seine Lunge, und um ein Haar hätte er den Tisch vollgekotzt. Während er noch versuchte, seinen Mageninhalt zu behalten, überlegte er, wie lange er schon keine Kippen mehr angefasst hatte. Mussten mindestens zehn Jahre sein. Aber hundertprozentig sicher war er nicht, auf jeden Fall eine verdammt lange Zeit. Es war ihm damals schwergefallen, es sich abzugewöhnen und er hatte mehr als einen Anlauf gebraucht, aber schließlich war es ihm gelungen. Zumindest bis heute. Gratulation.

      Jetzt war ihm nicht nur speiübel, sondern auch schwindelig, und alles drehte sich. Dennoch zog er wieder an der Kippe, hustete jämmerlich und hasste Jeannine für alles, was sie ihm angetan hatte. Er hasste sie, weil sie dafür verantwortlich war, dass er jetzt hier saß, eine Kippe in der einen und ein mörderisches Gesöff in der anderen Hand.

      Der Alkohol kroch ihm in die Nase.

      Der vernünftig denkende Mann in ihm fragte gerade, ob es das wert war. Ob er unbedingt diesen Fusel saufen musste und ob er es für klug hielt, seine Lungen wie einen verdammten Scheiß-Highway zu teeren, bloß weil dieses Miststück ihn verlassen hatte.

      Eine

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