...ach, dieses ewige Sehnen. Maxi Hill
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Eine der Frauen rief später den Mädchen zu, als die beiden Witwen längst um die Kurve geradelt waren: »Findet ihr das schön von eurer Mama? Habt ihr keine Angst so alleine?« Franka nickte, aber Karla schüttelte ihren Kopf. Sie hatte unlängst gehört, wie ihre Mama über die Keifenden geredet hatte, und wie sie sagte, dass sie böswillig seien und dass der liebe Gott sie nicht mit Barmherzigkeit gesegnet hätte. Zwar kannte jeder hier die Gefahr, die vom Zeltlager ausging, das im Wald, kaum einen Kilometer entfernt von den Russen aufgeschlagen worden war. Aber keines der Kinder konnte die Angst der Erwachsenen verstehen. Die Kinder gingen gern dahin, wo gesungen und getanzt wurde und wo des Öfteren einmal eine Schöpfkelle Suppe übrig war. Auch wenn sie die Soldaten nicht verstanden, sie waren stets freundlich zu ihnen.
Die Fahrt mit den Rädern ging bereits an den Teichen vorbei, führte dann nach sechs Kilometern den steilen Berg hinauf, wo sie ihr Gefährt schieben mussten. Von oben ging es leicht abschüssig bis zur Stadt, was für Maria, die ungeübter im Radeln war als Lotte, eine winzige Erholung versprach.
Hinter der Stadt ging es dann stetig bergauf. Maria kämpfte nicht nur gegen Atemnot an, auch gegen ihre untrainierten Muskeln, die schon jetzt ihren Dienst zu versagen drohten. Wie sollte es erst auf der Rückfahrt werden, wenn sie vom Tanzen erschöpft sein wird. Ob überhaupt jemand mit ihr tanzen würde? Lotte hatte diese Bedenken brüsk zerstreut: Dann tanzen wir eben miteinander. Wozu sind wir zwei?
Der Wind nahm zu und Maria kämpfte auch noch mit ihren wild fliegenden Haaren, die ihr die ganze Zeit ins Gesicht schlugen. Das Kopftuch saß zu locker, aber sie konnte es nicht ständig wieder fester binden, weil sie nicht dauernd absteigen wollte. Sie war schon Hemmschuh genug für Lotte, der es gar nicht schnell genug ging; überhaupt erschien ihr Lotte merkwürdig geheimnisvoll. Maria hatte ihr geliebtes Hütchen für eine Fahrradtour noch ungeeigneter gefunden, was sich jetzt rächte. Wenigstens schob sie von Zeit zu Zeit mit einer Hand eine vorwitzige Locke zurück unter das schützende Tuch, wobei sie ständig aus der Spur kam und das Fahrrad zu schlingern begann. Wie wird sie nur aussehen, wenn sie erst angekommen waren? Wer wird sie zum Tanz auffordern, wer wird mit mildem Blick in ihr gerötetes Gesicht schauen wollen, wie es Hannes getan hatte, meistens, und wie sie es seit langem vermisste.
Vor dem Gasthaus, das direkt an der Straße stand, stiegen sie endlich ab und schoben die Räder auf den Hof. Vor der Tür zum Saal stand eine Traube junger Männer, die den ankommenden Mädchen erwartungsvoll entgegen schauten. Maria sah es wohl, dass Lotte unbemerkt eine Hand hob. Lotte war nicht so schüchtern wie sie, das musste sie akzeptieren. Zwei der Kerle schlugen einem anderen freundschaftlich auf die Schulter. Dieser junge Mann trug eine Schiebermütze und es war derjenige, der Lotte zugewinkt hatte. Von einem anderen, hochgewachsenen, der im Lichtkegel stand und dessen Haar glänzte, hörte Maria die Worte: »Nichts für mich.« Es war wie ein Schlag ins Gesicht, obwohl sie nicht wusste, wem die Worte des Mannes galten, den sie pomadig nennen würde, aber nur wegen der glänzenden Paste in seinem Haar. Ein anderes Urteil stand ihr nicht zu.
Drinnen im Saal gab es noch immer die vom Krieg verschonte Tanzfläche, wie Maria noch nie eine gesehen hatte, wie sie ihr aber in allen Einzelheiten beschrieben worden war, und die stimmten: Ein Karree aus blauen, gelben und roten Glasflächen direkt vor dem Bühnenpodest, wo die Kapelle saß. Unter dem Glas brannte Licht — welch eine Verschwendung!
Später konnte sie beobachten, wie das Licht blau oder gelb, manchmal auch rot an den Beinen der Tanzenden empor kroch bis tief unter die Kleider der Frauen. Das schien der geplante Sinn dieser Fläche zu sein, die damit zum Ruf des Hauses beitrug. Drumherum in zwei Reihen standen Holztische und hölzerne Stühle, die bereits zur Hälfte belegt waren. Am Tresen stand der Wirt, der mit Adleraugen jeden taxierte, der von seiner Tochter, die den Einlass machte, hereingelassen worden war. In der Vitrine hinter dem Mann standen nur drei Flaschen Schnaps, ein Klarer, vermutlich Wodka, mit dem die Russen handelten. Ein Brauner vom Schwarzmarkt, und die Flasche mit grünem Pfefferminzlikör, der im Licht funkelte wie ein Smaragd. Daneben ein Fass, dessen Zapfhahn der Chef bereits bediente.
Die kleine Kapelle spielte sich leise ein. Einer auf einem Schifferklavier, ein anderer an einem Schlagzeug und einer der drei Musiker wechselte zwischen Flöte und einem golden glänzenden, gebogenen Instrument mit kleinen Hebeln, das Maria noch nie zuvor gesehen, vermutlich aber schon gehört hatte, denn dessen Töne gefielen ihr besonders gut und erweckten nie gesehene Bilder zum Leben, von Meer und Strand und Himmel und Sonne.
Erst einmal saßen die beiden Frauen nur da, lauschten der Musik und beobachteten, wie sich der Saal zu füllen begann. Zum Trinken war noch nicht die Zeit gekommen. Sie mussten ihr bisschen Geld gut einteilen. An der großen Eingangstür standen jene Kerle, die keine Plätze beanspruchten. Sie holten sich vom Wirt, was sie brauchten und standen wie in den Startlöchern, um schnell bei ihren Auserwählten sein zu können. Maria schaute zweimal verstohlen auf die Gruppe und könnte meinen, auch für sie sei nichts dabei, wie es der pomadige gesagt hatte. Kurz darauf waren auch jene beiden unter den Wartenden, die ihr schon, vor der Tür aufgefallen waren: Der große, pomadige, der sie beide abwertend beurteilt hatte, ebenso der mit der Schiebermütze, der Lotte zugewinkt hatte. Jetzt starrten sie immerzu in ihre Richtung. Im schummerigen Licht des Saales glänzte das Haar des Größeren nicht mehr so auffällig und er sah auch sonst gar nicht mehr so garstig aus. Der Kleinere, dem Lotte offenbar gefiel, stand auf dem Sprung, als wartete er ungeduldig auf den Startschuss, um quer über die Tanzflächen zu rennen.
Mit dem Auftakt zum Tanz hatte es auch Lotte sehr eilig, mit eben diesem Kerl, den sie offenbar von irgendwo kannte, für zwei Runden auf der Tanzfläche zu verschwinden. In der Tanzpause hatte sie Maria atemlos erklärt, sie habe diesen Waldi auf dem Schwarzmarkt kennengelernt, habe ihm einen Mantel und ein paar fast nagelneue Schuhe ihres Mannes vermacht und sei dafür großzügig belohnt worden. Vermacht? Und belohnt. Für Maria hörten sich die Worte nicht nach Schwarzmarkt an, aber darüber sollte sie nicht sinnen. Die Menschen brauchten ihre speziellen Methoden, um nicht zu verhungern, bisweilen auch dunkle Kanäle.
Nach dem zweiten Tanz blieb Lotte ganz weg. Maria kam sich mal wieder verlassen vor. Erst jetzt kam ihr der Gedanke, für Lotte nur das Alibi gewesen zu sein, um sich mit diesem Kerl zu treffen. Weiß der Geier, woher sie ihn wirklich kannte und wo die beiden jetzt waren.
Es ging ihr besser, wenn sie sie sich nicht dauernd umschaute, ob Lotte zurückkam, also bestellte sie sich einen winzigen Likör, nippte aber nur daran, weil sie sich einen zweiten nicht mehr leisten wollte. Das Zeug brannte in ihrer Kehle und es war ihr, als müsste sie sofort eine Zigarette haben, aber allein ohne Lotte zu rauchen, traute sie sich nicht.
Sie verfolgte die Bewegungen des Musikers mit dem blechernen Instrument und hoffte, er würde es nie wieder weglegen. Und dann hoffte sie ebenso sehr, der Kerl, der sie zu den ersten Tänzen aufgefordert hatte, käme nicht noch einmal. Alles Hoffen schien umsonst, als sie hinter sich eine Stimme vernahm, die etwas sagte wie: Wie wär's mit uns beiden? Mit ihr hatte diese Stimme nichts zu tun, redete sie sich ein. Wenn sie einfach nicht reagierte, würde er sich um eine andere Frau bemühen, Frauen gab es ja mehr als Männer.
»Darf ich bitten?«, sagte die Stimme jetzt spürbar höflicher. Trotzig drehte Maria den Kopf und erkannte, dass es nicht der unmusikalische Trampel von vorhin war. Der Kerl, aus dem die Worte kamen, sah auf einmal so normal aus, blickte sie so offen an, dass Maria die Absurdität ihrer Lage gar nicht erkannte. Normalerweise sprangen die Mädchen freudig auf, wenn sie nur einer aufforderte. Sie aber blieb sitzen, schüttelte ihren Kopf noch immer mit der Einstellung, sie habe den unbeholfensten Tänzer der Welt vor sich. Es war aber der Kerl mit der vielen Pomade im Haar, dem sie vermutlich noch vor einer halbe Stunde gar nicht zugesagt