Der Mörder gibt ein Rätsel auf. Rainer Ballnus
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„Aber Paps, du hast doch einen Sohn, wenn ich dich daran erinnern darf. Trau’ ihm doch einfach was zu. Er hat ‚Biss’ und auch das Können, glaub’ mir.“
Sie trat dicht vor ihren Vater. Auch bei ihm musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen, um ihm einen Kuss zu geben, schnappte sich den Kinderwagen mit dem immer noch protestierenden Sohn und verließ eilig das Büro. Sie hörte nicht mehr die leise Stimme ihres Vaters, als er sich auf seinen Bürosessel fallen ließ: „Wenn ich nur wüsste, wie ich sie überzeugen könnte.“
Er tat das, was er immer machte, wenn er nichts zu tun hatte: Kreuzworträtsel lösen. Gleich hatte er es geschafft. Mit einem kleinen Quäntchen Glück könnte diesmal ein DVD-Player als Gewinn herausspringen. Der arbeitslose Elektriker zuckte mit den Schultern.
„Wann hatte ich zum letzten Mal im Leben Glück gehabt?“, murmelte er vor sich hin, steckte den Lösungsbogen in einen Briefumschlag und verschloss ihn sorgfältig.
Der Mann schaute sich in seiner 30 qm kleinen, bescheidenen Mansardenbude in Flensburg-Harrislee um. Sein Blick war traurig. Was war nur aus ihm geworden. Vor knapp elf Jahren hatte er so ziemlich alles verloren, was Lebensqualität bedeutet, seine Arbeit, seine Frau und auch seine Kinder, die er nach der Scheidung nie wieder gesehen hatte. Es war seiner Ex-Frau gelungen, ihn in den Augen seiner beiden Mädchen als einen brutalen Schläger hinzustellen, der es nicht verdient hatte, Vater genannt zu werden. Anfangs hatte er aufbegehren wollen und bitterböse Briefe geschrieben sowie gerichtlichen Beistand gesucht und nicht erhalten. „Das Gericht kann Ihnen kein anteiliges Sorgerecht zusprechen“, hatte damals die Richterin gemeint. „Schließlich haben Sie Ihre Frau krankenhausreif geschlagen und sind ohne Arbeit“, war ihre beißende Begründung gewesen. So etwas konnte auch nur eine Frau sagen. Seine mehrfachen Befangenheitsanträge gegen diese Richterin waren natürlich abgeschmettert worden. Und in der Zeit danach, da war es nur noch bergab gegangen mit ihm. So richtig in Arbeit gekommen war er nicht mehr; immer mal wieder Gelegenheitsjobs, aber nie etwas Festes.
Ehrlicherweise musste er sich eingestehen, den Verlust seiner letzten Arbeitsstelle selbst verschuldet zu haben. Aber das war ja nicht aus irgendeiner Laune heraus geschehen. Diese arroganten Herren in der Chefetage, die waren mit ihm mehr als mies umgegangen. Gelegentlich klopfte er sich noch heute stolz auf die Schulter, wenn er daran dachte, was er alles daran gesetzt hatte, diese lausigen Typen von der Geschäftsleitung in der Zeit nach seinem Weggang aus der Fassung zu bringen. Rache war sein Motiv. Gewiss, ein primitiver Beweggrund, aber seine Aktionen hatten Wirkung gezeigt. Er war sich nicht zu schade gewesen zu schnüffeln und dabei herauszufinden, dass der Sohn des Unternehmers schwul war und seine sexuelle Befriedigung in entsprechenden Kreisen suchte. Seine Erpressungen brachten ihm zumindest eine kleine Aufbesserung seiner Stütze. Sein Gefühl, nicht zu hohe Schweigesummen zu kassieren, war richtig gewesen, denn es wurden ohne größeres Murren mal 2000, mal 1500 Mark und nach der Währungsumstellung gelegentlich auch 1500 € gezahlt, immer wieder an ein und derselben Stelle im Kaufhaus in der Fußgängerzone in Flensburg.
Mit den Erpressungen hatte er erst begonnen, als seine Frau ihn aus der gemeinsamen Wohnung hinausgeworfen hatte, sogar mit der Polizei. ‚Wegweisung’ nannten diese Typen das. Und warum? Nur, weil seine Frau so sauer gewesen war, als er die Arbeit ‚geschmissen’ hatte. Mein je, war sie da ausgerastet und hatte ihn in der übelsten Fäkaliensprache beschimpft, ihn als jämmerlichen Versager niedergemacht. Da war es eben geschehen. Er hatte rotgesehen und zugeschlagen, nicht nur einmal. Es wäre durchaus auch möglich gewesen, dass seine Frau diese Attacke nicht überlebt hätte. Sehr wahrscheinlich hatte sie das Klingeln an der Wohnungstür gerettet. Wie sich später herausstellte, war es ein Nachbar gewesen, der nach ein paar Eiern gefragt hatte.
Ja und dann gab es eine äußerst prekäre Situation in seinem Leben für ihn selbst, nach der er zum Erpressten wurde und ausgerechnet von den Menschen, die ihm übel mitgespielt hatten und von denen er einen damals erpresst hatte. Er nannte das die Ironie des Schicksals.
Der Mann stand stöhnend von dem einfachen Holzstuhl auf, trank einen Schluck des schon abgestandenen Bieres aus einem völlig verschmutzten Glas und wollte zur Tür gehen, um den Brief mit dem gelösten Rätsel in den Briefkasten zu befördern, da schrillte sein uraltes Telefon, noch mit einer Drehscheibe ausgestattet. Das hatte ihm ein ehemaliger Kollege mitleidsvoll überlassen. Er drehte sich zu der zerkratzten Anrichte um, auf der das Museumsstück stand, war kurz unschlüssig, ob er rangehen sollte oder nicht. Schließlich nahm er doch den schweren Hörer von der Gabel und sagte: „Ja!“
Nach wenigen Sekunden musste er schlucken. „Sie? Was wollen denn Sie von mir?“
Wenn er eines hasste, dann waren das Staus. Jörg Wartefuhl trommelte mit seinen Fingerkuppen auf das Lenkrad, nicht zum Takt einer Musik aus dem Radio, nein, er war genervt. Der Chef der Mordkommission in Flensburg wollte nach Hause. Ein langes Wochenende stand ihnen bevor. Und das hatten seine Frau und er bitter nötig. Nicht, weil er zu viel zu tun hatte. Ganz im Gegenteil, seit einem halben Jahr gab es für die Mitarbeiter im Kommissariat wenig zu tun und alle fragten sich, ob das wohl die Ruhe vor dem großen Sturm sei. Dabei hatten sie keine Langeweile, insbesondere deshalb nicht, weil seine Truppe von sich aus vorgeschlagen hatte, sich alte, noch immer ungelöste Fälle vorzunehmen. Ihn hatte es gefreut, dass sie selbst auf diese Idee gekommen waren. Sie waren ‚ganz heiß’ darauf gewesen, eventuell in dem einen oder anderen Fall doch noch Licht ins Dunkle zu bringen. Und es hatte sich schon mehr als einmal gelohnt. Außerdem konnten sie alle in der letzten Zeit den riesigen Berg an Überstunden, den jeder vor sich herschob, zu einem guten Teil abbauen.
Nein, nein, er musste das lange Wochenende nicht dafür nutzen, um sich von der Arbeit zu erholen. Er brauchte fast jede freie Minute, um etwas aufzuarbeiten, was sie beide, aber vor allem seine Frau immer noch zutiefst belastete.
Auf Jörgs Stirn bildeten sich augenblicklich Zornesfalten. Vor ihm schlich ein Auto mit dem Kennzeichen OH. Stimmt also doch, dachte er grimmig, was ich letzte Woche gehört habe, als mir jemand das OH-Kennzeichen übersetzte: Ohne Hirn. Der Chef-Ermittler drückte derart stark und lang anhaltend auf seine Hupe, dass er den Gummi beinahe durchstoßen hätte. Wild fluchend zog er rechts an dem Wagen mit dem trödelnden Fahrer vorbei, schenkte ihm noch einen kopfschüttelnden Blick und dann war er auf der Ausfallstraße nach Glücksburg. Ganze elf Jahre wohnten sie in dem reizvollen Ort, eigentlich konnte man auch Örtchen sagen, weil er so überschaubar, so anheimelnd war. Doch Glück gebracht hatte dieses schöne Fleckchen Erde seiner Frau und ihm nun wahrlich nicht. Allein diese jetzt wieder aufkommenden Gedanken ließen seine Augen feucht werden. Wie oft hatte er das in der Vergangenheit schon erlebt, aber er schaffte es immer noch nicht, eine professionelle Distanz zu dem damaligen Geschehen einzunehmen, das sie beide, aber vor allem seine Frau, beinahe aus der Bahn geworfen hätte.
„Schatz, dieses kleine Haus ist für uns wie geschaffen, für uns beide und für unsere vielen, vielen Kinder, die hier eines Tages unbeschwert herumtollen werden“, hatte Karin gesagt, als sie damals vor diesem ‚Knusperhäuschen’ standen und die Wahl hatten, es zu mieten oder zu kaufen. Die Entscheidung war für das Mieten gefallen. Er war sich damals noch nicht ganz sicher, ob hier in Flensburg seine berufliche Karriere als Chef der MK, wie das Kommissariat für Tötungsdelikte allgemein genannt wird, beendet sein würde. Mit 39 Jahren gehörte man schließlich noch nicht zum ‚Alten Eisen’, und er konnte sich schon noch eine Ausbildung zum ‚Höheren Dienst’ und damit eine Verwendung als Leiter einer Kriminalinspektion vorstellen, theoretisch zumindest. Aber praktisch? Seine Gedanken wanderten wieder zu Karin. Ja Karin, er musste unwillkürlich seufzen. Vor einer knappen halben Stunde hatte sie noch bei ihm angerufen und gedrängelt: „Komm’ nach Hause, Schatz. Du weißt, ich brauche dich.“
Ja, sie brauchte ihn wirklich. Seine Gefühle waren zwiespältig. Einerseits machte es ihn glücklich, dass Karin seine Nähe, seinen Beistand suchte und er ihr so eine Stütze