STÖRFÄLLE. Gudrun Gülden

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STÖRFÄLLE - Gudrun Gülden Dine

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bis zum Ende der ersten Klasse in der Grundschule, dann ist er schon sitzen geblieben. Dann blieb er noch Mal backen und kam auf die Sonderschule. Wir zogen ans andere Ende von Kleinbeken. Weit weg für eine Achtjährige.

      Er hat nach der Sonderschule Steinmetz gelernt und ist ein ziemlicher Brummer geworden, was ihm und manch anderem bei Kloppereien zu Gute kam. Wenn man den ganzen Tag Steine hin- und herträgt, kommt man gut gegen die Sesselpupser an.

      Der Andi hat immer geholfen. Ob das jetzt um Frauen ging, die der Ehemann an den Haaren die Straße lang zog, um Tiere, denen jemand in den Bauch trat oder um Menschen, denen man ein Atommülllager vor die Nase setzt.

      Lauwarme Kohlen

      Beim Mittagessen (Frikadellen mit Erbsen & Möhren und Dampfkartoffeln) waren Mama und ich allein, Papa war nicht da. Normalerweise kam er zum Mittagessen nach Hause.

      Ich stocherte in dem Essen 'rum.

      „Jetzt iss bitte“, kauzte Mama.

      „Du isst doch selber nichts. Außerdem mag ich das nicht.“

      „Wieso das denn nicht?“

      „Weil ich keine Tierleichen esse, Dosengemüse hasse und die Kartoffeln bleiben einem ohne Soße im Hals stecken.“

      Der Grund, warum ich keine Kinder wollte, war ich selbst. Sobald ich mit meiner Mutter mehr als drei Worte sprach, hätte ich vor Wut platzen können. Vielleicht waren das verspätete Flegeljahre, keine Ahnung, ich war ungenießbarer als ihr Essen. Ich hätte das an ihrer Stelle nicht ausgehalten, aber Mama verfügte nicht gerade über eine legendäre Empathie.

      „Dann koch dir doch deinen Scheiß selbst“, meinte sie. „Kommt ja keiner zum Essen.“

      „Ich bin doch da“, sagte ich. „Ich zähl' wohl nicht.“

      „Du magst mein Essen nicht.“ Abgang Mama.

      Ich ging in mein Zimmer und stieß mir auf dem Weg dahin zweimal den Kopf.

      Wir wohnten in der Zechensiedlung von Kleinbeken, nördliches Ruhrgebiet. Nachdem die Auguste-Victoria in Großbeken dicht gemacht wurde, boten sie die leerstehenden Zechenhäuschen zum Verkauf an und mein Vater fand, dass das es eine super Idee wäre, in einem Zechenhäuschen zu wohnen. Er kaufte das Haus ohne jemanden von uns zu fragen. Das Haus war verwinkelt und klein, mit niedrigen Decken, was ungünstig war, weil wir eine große Familie waren. Nicht von der Anzahl her, aber von der Körpergröße. Papa war 1,89 m, Mama war 1,74 m, nicht klein für eine Frau ihres Jahrgangs. Ich war 1,78 m, das war für ein fast achtzehnjähriges Mädchen sehr groß und ich konnte den meisten Typen meines Alters direkt in die Augen sehen. Papa stieß sich immer den Kopf, wenn er durch die Türen ging und wir alle stießen uns die Köpfe, wenn wir die Treppen hoch- oder runtergingen, was wir andauernd mussten, denn unser Haus bestand, grob beschrieben, aus drei Zimmern auf drei Etagen. Mein Zimmer war der ausgebaute Dachboden. Am Anfang heizten wir noch mit Kohle, weil Papa das sinnvoll fand und meinte, man könnte sich so von den Energiekonzernen unabhängig machen. Er freute sich jedes Mal den Arsch ab, wenn die Kohle kam, dann lag ein riesiger Berg direkt vor unserem Haus, den schippte er dann durch ein Minifenster in den Keller und Mama und ich schleppten die Kohle dann mit hundert Jahre alten, sauschweren Kohlebehältern aus dem Keller in die Wohnung. Wir fanden das Konzept nervig, vor allem Mama, die kotzte, weil es im Winter morgens saukalt war, wir uns im Bad einen Ast abfroren, oft nicht genug heißes Wasser hatten und schließlich lebten wir nicht im letzten Jahrhundert. Weil Papa dann doch Angst bekam, dass Mama sich scheiden lässt, hat er Heizungen einbauen lassen, was uns ruinierte. Das lag hauptsächlich daran, dass mein Vater handwerklich total unbegabt war. Papa hatte sechs ältere Brüder, die alle praktisch veranlagt waren, aber er war zu eigensinnig, um sie um Hilfe zu bitten. Sie hatten seiner Meinung nach nicht die richtige Einstellung, politisch und überhaupt. Die Handwerker flößten ihm schreckliche Angst ein, weil sie immer „Ojeojeoje, das sieht aber gar nicht gut aus“ ächzten und die Augen verdrehten, wenn sie ein neues Projekt bei uns starteten, so dass Papa immer das Teuerste bestellte.

      In meinem Zimmer haute ich mich auf mein Bett und hörte Musik.

      Ich war nicht besonders musikalisch in dem Sinne, dass ich eine verkackte Quinte von einer Quarte unterscheiden konnte und fand es mies, dass so was benotet wurde. Aber wahrscheinlich war es genau so ungerecht, dass ich in Kunst gute Noten hatte. (Bis auf das Mopsi-Bild).

      Das hatte nichts mit musikalisch oder unmusikalisch zu tun, welche Musik man mochte. Das war ja wohl Geschmackssache. Dadurch, dass ich nicht so ein Musikgenie war, gefielen mir nicht so viele Stücke wie anderen, klassische Musik empfand ich genau so schön wie das Kreischen einer Holzsäge, bei Jazzmusik fühlte ich mich, als sei mein Kleid zwei Nummern zu klein. Bestimmt tolle Musik, aber nicht in meinen Ohren. Als kosmischen Ausgleich gab es ein paar Songs, da schauerte es mich wohlig, als würde mir heißes Wasser beim Duschen über den Nacken rinnen. Manchmal rieselte der Schauer auch noch die Arme runter, bei Liedern wie „After The Goldrush“ von Neil Young. Neil Youngs Stücke mochte ich alle. Bei ihm war ich auch intolerant, was die Geschmacksfrage betraf. Wer Neil Young nicht total gut fand, war bekloppt. Und überhaupt gab es in unserer neuen Clique einen ziemlich festgelegten Kanon von Musikstücken, die man toll finden musste, so war das bei den Hippies. Ich döste vor mich hin und zum hundertsten Mal bedauerte ich, dass ich so spät geboren worden war und das in Kleinbeken. In der kalifornischen Wüste in einer Hippiekommune, oder so, zehn Jahre früher, das hätte ich besser gefunden. Dann wäre ich so alt wie Peter und hätte schon mal die Sache mit dem Altersunterschied nicht. Allerdings würden uns dann, mal angenommen, er wäre immer noch Geschichtsreferendar in Großbeken, neuntausend Kilometer trennen. Genauso aussichtslos war es, in Kleinbeken Hippie zu sein, so sehr ich mich auch bemühte. Die Grundbausteine Kiffen, Hippie-Musik, Indienkleidung und lange Haare fügten sich nicht zu einem gigantischen Liebes- und Friedensgefühl zusammen, wenn der einzige Ort, an dem man sich treffen konnte, ein Büdchen war, wo es Bier, Apfelkorn, Zigaretten und Süßigkeiten gab. Hier konnte man sich für nichts einsetzen. Ich protestierte ohne Publikum. Das Einzige, was mich als Widerstandskämpferin auszeichnete, was mein großer, runder „ATOMKRAFT? NEIN DANKE“ Aufkleber an meinem Fenster, wo ihn keiner sehen konnte, weil das Fenster zum Innenhof führte.

      Der einzige Ausweg war, von hier weg zu kommen. Im Moment saß ich fest. Auf lauwarmen Kohlen.

      Ich nahm mir vor, Gitarre zu lernen, das sollte angeblich nicht so schwer sein und für Neil Young reichte Gitarre als Begleitung.

      15-Minuten-Heimat

      Wir hatten uns zum Lernen bei Lissi zuhause verabredet. Ich zog Turnschuhe und meine rote Alpakajacke mit Lamamotiv aus Bolivien an, meine Mutter zankte mich an, ich solle festere Schuhe und was Wärmeres anziehen, da es Winter sei, was mir noch gar nicht aufgefallen war, wo einem doch Eiszapfen auf den Kopf fielen und ich hasste sie gleich für die erneute Einmischerei und zog erst recht meine Turnschuhe an. Ich war Hippie und zog keine Spießerklamotten an. Was hat ein Hippieleben mit wasserdichten Wanderstiefeln zu tun? Draußen schneite es, die Turnschuhe waren eine blöde Idee gewesen.Das war natürlich die Schuld von meiner Mutter, dass ich jetzt nasse und kalte Füße bekam.

      Lissi und ich kannten uns seit dem Kindergarten. Freundinnen wurden wir, als ihr Spaniel Jambosala unsere Mopsi schwängerte, da waren wir neun Jahre alt. Die Kleinen sahen sehr süß aus, einen nahm mein Freund Andi und nannte ihn Ente. Mein Vater ging mit Mopsi und den Welpen zu Lissis Eltern und verlangte Alimente. Lissis Eltern beömmelten sich, hahaha, Hände dreimal auf die Beine geschlagen, zahlten natürlich nix, luden uns aber zum Kaffee ein. Lissi und ich wurden „Beste-Freundinnen“ und verbrachten die

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