STÖRFÄLLE. Gudrun Gülden
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Ich griff mir ein figurbetontes Kostüm. Lissis Mutter hatte allerdings viel mehr Figur als ich.
Ich hatte mit knapp achtzehn Jahren nicht mal die Körbchengröße A. Mehr würde da auch nicht kommen. Ich fand’s ok, die Schwerkraft würde meinen Brüsten auch im Alter nicht zusetzen und kleine Titten passten voll in die Zeit, denn die hielten auch ohne BH'S, die von Hippiefrauen grundsätzlich nicht getragen wurden. Die gab’s auch nicht in der Größe „fast A“.
Den überschüssigen Stoff des Kostüms steckte ich mit einer Wäscheklammer im Rücken zusammen und schaute nach Schuhen. Ich griff mir froschgrüne Sandalen mit total hübschen Blümchen an den Riemen, so ein bisschen wie Gänseblümchen. Die Sandalen waren mir leider zu klein und ich riss einen Riemen ab.
Lissi hatte ein lindgrünes Alcantarakleid angezogen und dazu einen ausladenden bunten Hut mit Blumen. Sie saß am Schminktisch ihrer Mutter.
Ich klemmte mich neben sie. Zuerst puderte ich mir das Gesicht hell, dann zog ich mir dicke schwarze Balken um die Augen. Die Lippen malte ich mir dunkelrot. Ich fand eine Bob-Frisur-Perücke, leider nicht schwarz, sondern komisch grau-blond, schwarz wäre besser gewesen, aber egal, Perücke an sich war schon abgefahren genug. Ich steckte mein Haar mit Klämmerchen eng an den Kopf. Ich hatte hüftlanges, dichtes Haar und brauchte fünfundfünfzig Klämmerchen, um es komplett an meinem Kopf festzumachen. Lissis Mutter hatte irre viel Haarklämmerchen, bestimmt zweihundert und ich fragte mich, wofür und ob sie von allen Sachen so viel hatte. Und alles hatte seinen Platz, es war überall extrem ordentlich. Dann packte ich die Perücke auf meinen Kopf. Ich betrachtete mich im Spiegel. Ich sah mich zum ersten Mal geschminkt und dachte, dass Schminke viel ändert, aber ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich das gut oder schlecht fand.
Ich schminkte mich nie, weil es mir viel zu viel Gedöns war und fragte mich, was die Frauen mit Schminke bezweckten. Es gab ja auch Männer, die sich Farbe auflegten, die Kelten malten sich die Gesichter vor der Schlacht blau, Soldaten benutzten Tarnschminke. Sie schminkten sich, um ein Anderer zu werden, um brutaler vorgehen zu können. Angriff und Tarnung. Krieg und Liebe. Bei den Frauen war es wohl das Gleiche.
Ich schaute zu Lissi. Das Ziel ihrer Bemalung konnte keinesfalls als Tarnung missverstanden werden. Blauer Lidschatten, unechte Wimpern mit irre viel schwarzer Wimperntusche, ohne Ende Rouge und pinkfarbene Lippen. Sie schaute selbstvergessen in den Spiegel. Ich sah ihr Gesicht im Spiegel und erkannte sie nicht. Für einen Moment dachte ich, dass ich die Kontrolle über mich verlöre, man hatte so was ja schon gehört, dass man auch mit Haschisch ziemlich abdrehen kann, dann stieg mir aus dem Bauch ein krampfiges Lachen hoch, ich konnte das nicht abstellen, wollte ich auch eigentlich nicht, dann musste ich plötzlich ganz oft niesen, das hörte gar nicht auf, meine Augen tränten, ich sprang auf und pinkelte mir in die Hose. So richtig, nicht ein bisschen und so.
„Es ist etwas Schreckliches passiert“, stieß ich heraus, mehr zu mir als zu Lissi und rannte ins Bad. Ich zog mir meine Unterhose aus, schmiss sie in die nächste Ecke, wusch mich, versuchte, mich abzutrocknen, was mir echt nicht leicht fiel, weil alles sehr unübersichtlich war. Ich ging im Flur hin und her, zwischen Eichenregalen mit unzähligen Büchern, die dort ein Nischendasein führten und vorwurfsvoll aussahen. Ich atmete tief in den Bauch, das kannte ich vom Yoga, bis ich das Gefühl hatte, die Kontrolle über meine Körperfunktionen zurückgewonnen zu haben.
Dann ging ich in Lissis Zimmer und legte Janis Joplin auf. Ich drehte die Lautstärke auf. Sensationell. Die Musik drang wie eine Infusion Glück in mich hinein und legte gleichzeitig ihre luftigen Finger auf meine Wunden.
Erstens: Ich hatte noch nie einen Freund. So einen, wie ich ihn wollte, gab es hier nur einmal. Das Problem war, dass er mein Geschichtsreferendar war, der unter anderen Hinderungsgründen auch noch eine Freundin hatte. Auch wenn Hippies in der Regel nicht einsahen, dass eine Beziehung unbedingt monogam sein musste, gab es gesetzliche und moralische Grenzen, die Peter ernst nahm. Ich bewunderte ihn für seine Willensstärke, fand mich aber nicht damit ab. Was sollte so ein Begriff wie freie Liebe, wenn er Kleingedrucktes hatte.
In der Praxis waren der „freien Liebe“ in Kleinbeken und selbst in Großbeken arge Grenzen gesetzt. Da waren doch alle gleich. Der einzige Mensch, den ich kannte, der sich in Sachen Sex nicht ganz konventionell verhielt, war Joseph, der aber in keiner Weise ein Vorbild für mich war. Er war der Knecht von Onkel Manni, dem ältesten Bruder von Papa, der Milchbauer war. Ab und zu konnte Joseph sich in Bezug auf seine Zuneigung zu Lise, einer respektablen Milchkuh, nicht zurückhalten. Natürlich regten sich alle immer total auf und steckten Joseph für eine Woche in den Knast, wenn er es mal wieder zu bunt getrieben hatte. Irgendwie fand ich das merkwürdig. Nicht, dass ich Josephs höchstwahrscheinlich einseitige Zuneigung zu Lise befürwortete. Nein. Ich meine, wenn sie doch wussten, dass er an die Kühe geht, dann hätten sie ihn nicht als Knecht arbeiten lassen dürfen. Aber nein, alle drei Monate wurde klar Tisch gemacht und Joseph musste zur Strafe mal wieder in den Knast. Ich fand das irgendwie nicht zu Ende gedacht. Die Männer in unserem Dorfe schienen von Liebe oder Sex wenig zu wissen. Aber das brachte mich jetzt auch nicht weiter.
Zweitens: Das Kiffen machte mich träge. Es brachte mich nicht an die Front des Geschehens, allerdings konnte ich bekifft herrlich von Sachen träumen, die ich am liebsten tun würde.
Ich hatte Angst, dass der Einfluss dieses Kaffs und das Fehlen sämtlicher Sachen, die ich cool fand, mir einen Riesenschaden zugefügt hatten. Man kann nicht theoretisch was erleben und das, was ich erlebte, hatte wenig mit Liebe oder Hippie zu tun und war schwachsinnig.
Wenn ich es genau betrachtete, gab es nur einen Menschen, den ich von seinem theoretischen Ansatz her vernünftig fand. Meinen Vater. Im Ernst. Ich war nicht so was, was man eine Vatertochter nennt. Ich hielt mich in vielen Dingen an ihn, weil meine Mutter noch merkwürdiger war. Aber er war tatsächlich ein Vorbild in seinem politischen Denken für mich. Mit der Umsetzung haperte es bei ihm wie bei mir, aber theoretisch war er auf der Höhe. Mein Plan war, einen Schritt weiter zu gehen als er. Das Denken meines Vaters in die Tat umzusetzen. Ich wollte mich an Bäume anketten, Hühner befreien, in Nicaragua Entwicklungshilfe leisten oder gegen Atomkraftwerke demonstrieren. Ich hatte einen weiten Weg vor mir, eigentlich war ich noch vor dem Start. Und heute würde auch nichts aus 'Dine-Rettet-Die-Welt' werden, denn ich befand mich komplett stoned auf einem privaten Kinder-Verkleidungs-Kaffeeklatsch.
Sex
Ich drehte uns noch einen Joint, zündete ihn an und ging damit zu Lissi, die den Kaffeetisch deckte.
Lissi schaute mich eine Ewigkeit an.
„Was ist mit deinem Gesicht passiert?“, fragte sie.
„Lachanfall“, sagte ich und sie nickte.
„Das Kostüm steht dir“, sagte sie.
Ich war erleichtert, dass sie von meinem Pinkelunfall nichts mitbekommen hatte. Ich musste aber dermaßen intensiv daran denken, dass ich dachte, sie würde mich gleich danach fragen, warum ich keine Unterhose anhatte.
Wir rauchten den Joint, dann holte Lissi eine Flasche Sekt. Asti Spumante. Das ist jetzt kein Gesöff wie Champagner, von der Herstellung, vom Preis und dem Renomee her, aber schön süß und fruchtig. Bekifft kann man sich den Zucker nur so ins Maul schaufeln. Jede Zelle des Körpers lechzt nach Süßem und dann ist das Büdchen in Kleinbeken nämlich doch gar nicht so ein schlechter Ort für unsere Grundbedürfnisse. Die Pulle Asti ging