STÖRFÄLLE. Gudrun Gülden
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Unter der Schminke schimmerte Lissis Haut grau-grün.
„Mir ist schlecht. Ich muss kotzen.“
Und schon reiherte sie über den ganzen Tisch und aufs Kleid. Der Strahl kam mit Druck und war wenig damenhaft. Ich fühlte mich überfordert, unterdrückte das hochsteigende Lachen und zog die Lippen in Richtung gekräuselter Nase, wie es die westfälischen Kartoffelbauern beim Begutachten ihrer Äcker machen. Sieht megadämlich aus.
Dann entdeckte ich Lissis Mutter im Türrahmen.
Wo ist die Unterhose?
Im Aschenbecher neben Lissis saurer Hefezopfsektkotze lag der abgerauchte Joint, der im folgenden Tumult als Hauptbeweisstück diente. Kurz versuchten wir Lissis Mutter weiszumachen, dass es tatsächlich ein Silvesterböller wäre, aber wir konnten gerade nicht lügen. Lissis Mutter nahm den Joint mit spitzen Fingern und machte schmale Augen, die ungerechterweise zwischen mir und dem Joint hin- und herwanderten.
„Was ist das?“, fragte sie mich.
Ich schaute Lissi an. Das war ihre Mutter. Das musste sie erledigen.
„Das ist ein Joint, Mama“, sagte sie.
Das Gesicht von Lissis Mutter schnappte zusammen. Wortlos deckte sie den Tisch ab und wickelte die Kotze in die Tischdecke ein. Ebenso wortlos schauten Lissi und ich ihr dabei zu. Lissis Bruder starrte uns aus dem Hintergrund an und ich glaubte, ihn grinsen zu sehen.
„Was habt ihr da überhaupt an?“, fragte sie.
„Scheiße“, dachte ich.
„Sind das meine Kleider?“, zischte sie, ohne die Zähne auseinanderzubringen. „Wie alt seid ihr eigentlich? Fünf? Zieht das aus.“ Sie schaute mich an.
„Dich fahre ich gleich nach Hause.“
„Scheiße“, dachte ich schon wieder.
„Das hat ein Nachspiel“, sagte sie, als sie den umgeworfenen Paravent und die zerborstenen Glasfiguren sah.
Ich fand meine Unterhose nicht wieder. Mir fehlte der Mut, jemanden um Hilfe bei der Suche zu bitten. Ich schlüpfte in meine Klamotten und folgte Lissis Mutter. Im Auto redeten wir kein Wort.
Zuhause angekommen klingelte Lissis Mutter, ich stand schräg hinter ihr. Meine Mutter öffnete. Sie hatte geweint, schon bevor sie mich sah. Mit entleertem Gesicht und verquollenen Augen schaute sie Lissis Mutter an. Mein Vater war auch da, obwohl er um diese Zeit eigentlich immer im Volksmuseum war.
Dann entdeckte Mama mich und fing an zu schreien.
„Wie siehst du denn aus? Was ist mit dir los?“
Wimperntusche und Kajal waren so verschmiert, dass ich aussah wie ein Bergarbeiter nach der Schicht, die Augen trieften blutunterlaufen, der Lippenstift färbte großzügig die Gesichtsfläche von Nase bis Kinn. Meine Haare klebten am Kopf, ohne Perücke sah es nach bösem Haarausfall aus.
Dass ich keine Unterhose anhatte, sah zum Glück niemand. Ich wusste es und konnte null darüber lachen.
„Ich bringe Ihnen Ihr Kind. Sie hat meine Kleider ruiniert, meine Tochter angestiftet, Drogen zu konsumieren und die gesamte Einrichtung unseres Hauses zerstört.“
Meine Mutter blickte mich an, als hätte sie schon immer geahnt, dass ich eine dunkle Seite hätte.
Im Hintergrund stand mein Vater, der mich bestaunte und die Arme hilflos hob.
Meine Mutter fuhr zu ihm herum.
„Das ist das Ergebnis von deinen Geschichten“, knurrte sie ihn an. „Wenn du dich mehr um deine Familie, als um gelenkige Gerippe kümmern würdest, wäre das nicht so weit gekommen.“
Ich drückte mich an ihnen vorbei und ging in mein Zimmer. Erst war ich ziemlich nervös, weil ich dachte, sie würden gleich kommen und es würde ein Donnerwetter auf mich runterprasseln, wie ich es noch nicht erlebt hatte, aber es passierte gar nichts.
Meine Mutter wollte an diesem Tag meinen Vater überraschen und von der Arbeit abholen. Wahrscheinlich fand sie es merkwürdig, dass er ohne Abmeldung nicht zum Mittagessen gekommen war. Im Heimatmuseum war er nicht. Man sagte ihr, er sei im Yogakurs, was meine Mutter verwunderte. Sie ging zur Turnhalle der Volkshochschule und fand meinen Vater mit der Yogalehrerin in Verrenkungen verbunden, die mehr nach Kamasutra aussahen, als nach Yoga.
Diese Kamasutrasache fuchste sie mehr, als die Neuigkeiten über meine bewusstseinserweiternden Experimente. Das war wieder typisch für meine Eltern. Immer war irgendwas wichtiger als ich. Was nicht hieß, das die ganze Sache keine Konsequenzen hatte. Weder für mich, noch für meinen Vater.
Soweit ich das überhaupt beurteilen konnte, führten meine Eltern eine schlechte Ehe. Ich hätte so auf jeden Fall nicht mit einem anderen Menschen zusammenleben wollen. Mein Vater hielt sich aus dem Familienleben weitgehend raus. Die meiste Zeit verbrachte er mit Lesen. Er las jeden Tag drei Zeitungen, die Westdeutsche Allgemeine Zeitung, die Frankfurter Rundschau und die Großbekener Zeitung. Wöchentlich las er den Spiegel, Die Zeit, das Time Magazine und monatlich kamen dann noch Geo und Das Mitbestimmungsgespräch hinzu. Er las das alles genau, regte sich auf und dann erzählte er uns endlos davon. Gerade hatte er das Thema Atomkraft entdeckt. Sein großes Feindbild war die RWE.
„Die von der RWE machen, was sie wollen“, sagte er. „Die bestimmen unsere Zukunft, nicht die Politiker. Die schließen die Kohlewerke und bauen die Atomkraftwerke. Mich macht es krank, dass wir nichts dagegen tun können und die so ungeniert vorgehen.“
Außerdem motzte er seit neuestem über Helmut Schmidt, obwohl er immer ein sehr treuer SPD-Anhänger gewesen war. Wenn er länger als fünf Minuten von Willi Brand redete, kamen ihm die Tränen, ohne Scheiß.
Meine Mutter hatte gewisse Probleme, sich mit ihrem Leben als Mutter und Hausfrau zu identifizieren. Sie hasste es zu kochen, zu putzen, zu Hause zu sein, sich um mich oder Mopsi zu kümmern. Und das lag nicht daran, dass sie faul gewesen wäre. Es war einfach nicht ihr Ding. Ich fragte mich manchmal, wie sie es mit uns aushielt. Jetzt hatte Papa das Fass zum Überlaufen gebracht.
Sie haute ab. Wegen Papa und der Yogatussi. Sie packte noch am gleichen Tag ihre Sachen, nahm das Auto (unser einziges) und fuhr aus unserem Leben. Sie umarmte mich und sagte, es ginge jetzt nicht anders und ich solle ihr nicht böse sein. Ich war nicht sauer auf sie. Ich hatte ein bisschen Angst, dass Papa es vielleicht ernst meinte mit der Yogatussi und meine Eltern sich trennen würden. Alle im Ort sagten, dass eine schlechte Familie immer noch besser sei, als keine Familie. Und ich hätte lieber ein Handtuch gegessen, als mit Mama alleine zu wohnen.
Kulinarisch gesehen bestand die Zeit ohne Mama aus einer Aneinanderreihung von Tiefpunkten. Papa und ich aßen morgens trockenes Müsli, weil nie Milch da war und tranken dazu löslichen Kaffee mit Zucker. Zwischendurch kaufte ich mir Schokoschaumwaffeln vom Schulbüdchen. Mittags ging ich zum Currywursteck und aß Pommes und abends hauten wir uns Chips oder so was rein. Eigentlich stand ich total auf gesundes Essen, Vollkornbrot, Gemüsesuppe, Salat und so was, aber ich sah es nicht ein, wegen Papas Scheiße die Versorgung zu übernehmen, das fehlte noch. Außer für Mopsi, für die holte ich das Futter vom Raiffeisen. Nachdem Papa sich im Dorfladen mit zwanzig Packungen Pumpernickel und vierzig Dosen Thunfisch in der Dose