STÖRFÄLLE. Gudrun Gülden
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Eines Tages kam eine Gruppe langhaariger, bärtiger Jungs, die wir noch nie gesehen hatten, in die Teestube. Sie hatten lappige Klamotten in undefinierbaren Farben an, alles so in Richtung Rosa, drehten ihre Zigaretten selbst und fuhren in einem VW-Bulli durch die Gegend. Sie kamen uns vor wie Jünger, die ein geheimes höheres Ziel hatten, das so geheim war, dass es niemand kannte.
Ihr Anführer war Lukas. Auch wenn sie es nicht so sahen – sie hatten keine durchgängig anarchistische Gruppenstruktur und zufällig gehörte der Bulli Lukas und er hatte immer ohne Ende Dope. Er war groß, hatte besonders lange glatte Haare und hellblaue Augen. Als Lissis und sein Blick sich zum ersten Mal trafen, schauten sie sich minutenlang in die Augen und lächelten blödsinnig. Man signalisierte bei diesen Typen durch ewiges Anstarren gesteigertes Interesse. Auf keinen Fall schaute man woanders hin. Man saß total beknackt neben so jemanden, wenn gerade ein Anstarrmarathon lief, das kann ich aus eigener Erfahrung sagen. Luft ist nichts dagegen.
Ein Hippie im nördlichen Ruhrgebiet der späten siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts ist schnell beschrieben. Das Wichtigste war, dass man ganz viel kiffte. Äußeres Erkennungszeichen für eine friedliche Gesinnung waren indische Kleidung und ein Peace-Zeichen auf dem Auto, wenn man kein Auto hatte, ging auch ein Lederhalsband mit Peace-Amulett. Lange Haare mit Mittelscheitel, auf jeden Fall ohne Pony, rundeten das Bild ab. Man war gegen den Staat, gegen Mercedes, aber eher so im Allgemeinen, tat keinem was Böses und solange die Eltern oder die Wohngemeinschaft einen mit organisch einwandfreiem Gemüse fütterten, war alles prima. Niemals hätte ein Kiffer eine bürgerliche Karriere im Blickfeld gehabt. Also ehrlich gesagt, waren wir international gesehen reichlich spät dran mit dem Hippiedings, aber in Hinsicht auf die Entwicklungsreife unserer Dorfbevölkerung vollbrachten wir einen Quantensprung. In Kleinbeken gab es noch welche, die hatten irgendwie nicht mitbekommen, dass der 2. Weltkrieg vorbei war.
Nachdem Lukas und Lissi sich lange genug in die Augen geschaut hatten, waren sie zusammen. Lissi machte Schluss mit Stefan, dem blondgelockten Sohn vom HNO-Arzt in Großbeken, der Tennis spielte. Sie waren drei Jahre zusammen gewesen und Stefan nahm die Trennung schwer und hatte seitdem chronische Mandelentzündung.
Außer Lukas gehörten noch Matte, Paul und Chrissi zum engeren Kreis. Matte war ein Musikfreak, er kannte jeden Musiker der Welt und kiffte ohne Ende. Er hatte lange braune Haare und war der Einzige in der Clique, der arbeiten ging, auf der Zeche Blumenthal in Recklinghausen. Paul war ein Großcousin von mir. Er hatte die Jungs durch Lissi und mich kennengelernt. Seit kurzem studierte er Tontechnik in Düsseldorf und war außerdem mein Musikdealer. Von ihm bekam ich kilometerlange Tonbänder, Mitschnitte von John Peels1 Sendung, aus der er sich dann die Bands suchte, die er für mich aufnahm. Ein besseres Geschenk gab es nicht. Seit Lissis sechzehntem Geburtstag war er mit Kathrin zusammen, mehr oder weniger.
Chrissi war wohl der mieseste Jesusimitator, den die Welt gesehen hatte. Er trug bodenlange weiße Kleider und selbstverständlich Jesuslatschen. Sein schwarzes Haar lockte sich bis zum Hintern und er hatte immer Hunger.
Kathrin hatte ich noch nie in der WG gesehen, ich glaube, ihr war es da zu dreckig.
Ich fragte mich, ob mein Geschichtsreferendar Peter auch ein Hippie war oder was er war.
Wir setzten uns zu den Jungs in den Bulli und schnallten, dass es was Anderes als Apfelkorn gab, um sich die Zeit zu vertreiben. Wir kifften, hörten Neil Young, Bob Dylan, Jefferson Starship und fühlten uns überlegen, weil wir für Frieden waren. Als hätten wir persönlich die Roten Khmer vertrieben.
Lissi und Lukas sahen aus wie Hippiegeschwister, beide lange Haare, blaue Augen, groß und schlank in weiten indischen Klamotten. Lissi, die schnell die Grundsätze des Hippieseins begriffen hatte und sich das rausfischte, was sie schöner aussehen ließ und ihren Talenten entgegenkam, dazu Lukas, der hübsche Kerl mit Bulli, jeder Menge Hasch und einer ruhigen Art, die allerdings auch was mit seinem Haschkonsum zu tun haben konnte. Oft trafen wir uns nach der Schule bei Lukas in der WG. Wenn Lukas nicht da war, bestimmte Lissi, was wir machten, das war ok, weil keiner von uns Bock auf dieses hierarchische Gerangel hatten.
Ich fand Abhängen und bekifft in der Gegend rumfahren nicht übel. Nach einer Weile häuften sich Zweifel in mir, ob ich so einen Beitrag für eine gerechtere Welt leistete. Und meinem Geschichtsreferendar brachte mich das auch nicht näher.
Und ich weiß, wir werden die Sonne sehen
Wir fuhren ohne Lissi zum „Ton, Steine, Scherben“-Konzert, obwohl wir das total blöd für Lissi fanden. Kathrin und Eveline kamen mit, Paul und Chrissi waren auch dabei.
Lukas wollte uns in Kleinbeken abholen.Um Punkt zehn standen Eveline und ich frierend vor unserem Haus. Etwas Wärme kam von Papas Blicken, die in meinem Rücken brannten. Es schneite dicke Flocken und war so kalt, dass der Schnee verharschte. Das gab es selten im Ruhrgebiet, meistens zerschmolzen die Schneeflocken schon auf dem Flug zur Erde in einen grauen Matsch. Um elf Uhr gingen wir wieder rein, um halb zwölf kam Lukas.
„Sehr zuverlässig, Eure Freunde“, sagte Papa. „Haben die keine Uhr?“
Bis zur innerdeutschen Grenze hinter Braunschweig kifften wir ohne Ende. Wegen des Wetters kamen wir schlecht voran. Lukas spielte eine Kassette von den Scherben. Ich hatte noch nicht viel von ihnen gehört. In Lukas‘ WG stand ein Liedtitel von ihnen an der Wand: „Macht kaputt, was euch kaputt macht“. Ich verstand den Spruch nicht so richtig, sobald ich länger darüber nachdachte, bekam der Spruch eine abartige Dynamik und ich hatte die Ausrottung aller Menschen vor Augen, besonders, wenn ich bekifft war, kam ich auf düstere Gedanken. Wenn ich besoffen war, hatte ich immer alle sehr lieb und wollte Peter anrufen.
Chrissi fuhr voll auf die Musik ab. Er wippte seinen Kopf mit geschlossenen Augen nach vorne und sang ein paar Worte mit.
Auf einmal riss er die Augen auf und bat uns, zuzuhören. „Wenn ich die Musik der Scherben höre, empfinde ich einen so tiefen Schmerz, ich bin verzweifelt und bekomme doch Hoffnung für die Menschen, die vom eintönigen Alltag und den beunruhigenden Botschaften von Mord, Gier und Skrupellosigkeit zermürbt werden“, sagte er.
Wir waren baff. So viel hatte er noch nie an einem Stück gesagt.
„Woher hast du das denn?“, fragte Paul.
„Dr. Schiwago“, sagte Chrissi.
„Gibt es die Scherben denn schon so lange?“, fragte Eveline.
Der westdeutsche Zoll winkte uns durch, dann kam ein weißer Strich, der den Übergang ins Hoheitsgebiet der DDR kennzeichnete. Wir wurden von Soldaten im Wachturm neben der Straße beobachtet. Kathrin war blass.
„Ist dir nicht gut?“, fragte Eveline.
„Mir ist schlecht“, sagte sie. „Ich glaub, ich muss kotzen.“
Paul nahm sie in den Arm.
Endlose Autoschlangen warteten vor der ersten Passkontrolle. Lukas wählte die lahmarschigste von allen. Nach einer Stunde fragte uns ein dürrer Mann in Uniform und riesiger Uniformkappe, ob wir 'Funk oder Waffen' hätten“. Chrissi saß vorne und antwortete, dass wir ein Radio hätten, wir lachten wie blöde (bis auf Kathrin) und wurden rausgewunken. Sie filzten uns und wir mussten fünfzig Mark Zoll für einen Wecker und die Yps-Sammlung von Lukas bezahlen. Als wir unsere Pässe