Finisterre. Claus Karst

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Finisterre - Claus Karst

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Sie es noch nicht bemerkt haben, Sophie, wir befinden uns hier in einem Mikrokosmos, wie er sich nur in der vollkommenen Isolation hinter diesen hohen Bergmauern ausbilden konnte, eine Welt, die Fremden jeglichen Zugang verwehrt“, erklärte Pascal. „Vielleicht ist diese Romana doch nicht so alt, wie sie uns vorgekommen ist. Vielleicht ist Ines auch nur eine Ziehtochter von ihr. Gesetzt den Fall, sie hat wirklich etwas mit ihr zu tun, so besteht zumindest die vage Aussicht, mehr zu erfahren. Das will ich zumindest hoffen. Ines erweckt den Eindruck, über alles gut informiert zu sein. Und ich wette, dass sie bei dem Spiel, das hier abläuft, mitspielt.“

      Sophie hatte ihm aufmerksam zugehört. Sie nickte. „Wenn ich mir diese unverschämte Person genauer betrachte, hat sie unbestreitbar etwas an sich, das an Zigeuner erinnert, was ich übrigens jetzt bitte völlig wertfrei gedeutet haben möchte. Ich spreche nur von ihrem Aussehen und sage das ohne jedes Vorurteil. Im Gegenteil, ich liebe deren Musik über alles. Doch nehmen Sie sich vor Ines in Acht, Pascal! Sie ist gefährlich! Sie gehört zu den Frauen, denen ein Mann schneller verfällt, als er sich vorstellen kann, glauben Sie mir. Ich habe meine Erfahrungen.“

      Sophie starrte gedankenverloren aus einem der Fenster in die dunkle Nacht und schien keine Antwort von ihm zu erwarten. Also schwieg Pascal ebenfalls. Als sie schließlich fragte: „Erinnert sie Sie nicht auch an die Carmen in der Oper von Bizet?“, gewann er das unbestimmte Gefühl, dass bei Sophies Warnungen vor den Verführungskünsten von Ines nicht nur Fürsorge, sondern auch eine gehörige Portion Eifersucht mit im Spiel sein könnte.

      An der Rezeption lief ihnen der junge Kellner über den Weg, der sie bedient hatte. Pascal knöpfte ihn sich ohne jedes Geplänkel vor, packte ihn bei den Schultern und drückte ihn mit Gewalt gegen die Wand.

      „Was wollten Sie uns nicht sagen?“, fuhr er ihn an und drückte fester.

      „Ich kann Ihnen nichts sagen, ich weiß nichts“, jammerte der junge Mann und wich Pascals Blick aus.

      „Pascal, bitte“, mischte Sophie sich ein und zog ihn weg.

      „Wir sprechen uns noch!“, drohte Pascal. „Dann werde ich weniger freundlich sein, das dürfen Sie mir glauben!“

      Sie ließen den erschrockenen Angestellten stehen und gingen hoch auf ihre Zimmer, Pascal mit geschwollener Zornesader auf der Stirn.

      „Der Junge ist nicht unser Problem, Pascal, das sind andere hier. Ich hoffe, heute Nacht endlich wieder ein paar Stunden Schlaf zu finden, denn ich bin körperlich restlos am Ende. Um nachzuhelfen, werde ich zwei Schlaftabletten nehmen, jetzt, da ich weiß, dass ein Schutzengel im Zimmer nebenan wohnt.“

      Mit einem Lächeln umarmte sie ihn, hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und öffnete ihre Tür.

      „Ich halte meine Tür unverschlossen, Sophie, für alle Fälle“, versprach Pascal.

      Ihm war es recht, dass Sophie früh schlafen ging. So konnte er sich ungestört noch ein wenig im Haus umsehen, vielleicht sogar Ines finden und sie in ein Gespräch verwickeln, ohne Sophies Missbilligung hervorzurufen.

      Er ging auf sein Zimmer und stutzte. Seine Kleidung lag bereits, wie er überrascht feststellte, ordentlich zusammengefaltet und sauber auf seinem Bett. Pascal ließ sich in einen Sessel fallen, wo die Bilder seines nächtlichen Albtraums sofort wieder auflebten. Was hatte das alles zu bedeuten? Wofür standen die Uniformierten und die furchteinflößenden Hahnenköpfe? Waren Träume vielleicht doch in der Lage, Botschaften zu übermitteln? Leonie hätte eine solche Frage sofort bejaht, er aber hatte sich nie mit derartigen Gedanken anfreunden können. Vielleicht wurde es Zeit, dass er versuchte, sich in sie etwas mehr hineinzudenken. Er fühlte sich hilflos wie noch nie zuvor in seinem Leben. Beruflich stand er seinen Mann, wusste Rat in jeder Situation. Was aber hier geschah, ließ ihn völlig machtlos erscheinen und zeigte ihm Grenzen auf, wie er sie noch nie zuvor in seinem Leben zu überwinden hatte. Fragen über Fragen türmten sich wie Gebirge vor ihm auf, deren Antworten im Dunkeln lagen.

      Er stand auf, ging unruhig im Zimmer auf und ab und schaute aus dem Fenster in die Nacht.

      Es regnete noch immer, jedoch weniger stark als am Nachmittag. Ob ich’s noch einmal bei der Gendarmerie versuche?, überlegte er, verwarf den Gedanken jedoch sofort wieder. Er setzte sich und goss sich ein Glas von dem Wein ein, den er mit aufs Zimmer genommen hatte.

      Was kann ich nur tun? Diese Frage machte ihm zu schaffen, ließ ihn nicht mehr los. Doch die häufig gepriesene göttliche Erleuchtung wollte sich nicht einstellen, wahrscheinlich als Strafe für seine mangelnde Frömmigkeit. Leonie war dort draußen alleine in der Nacht. Oder auch nicht. Ganz sicher aber steckte sie in einer Notlage, das spürte er mit aller Macht. Hatte seine Frau vielleicht doch recht? Gab es wirklich diese verrückten Dinge, die sie mit ihren Freunden diskutierte, wenn sie sich in ihren absurden, versponnenen Zirkeln trafen? Gab es etwas zwischen Himmel und Erde, das Leonie immer schon gesehen hatte, das er nun zu erahnen begann? War er vielleicht so entsetzlich voller Unruhe, weil seine Frau dort draußen verzweifelt in Gedanken nach ihm rief?

      Pascal tigerte die halbe Nacht vor seinem Fenster auf und ab und versuchte zu begreifen, was hier vorging.

      Als er sich schließlich irgendwann erschöpft aufs Bett sinken ließ, fielen ihm die Augen zu. Er konnte es nicht verhindern. Seine wirren Träume ließen keinen Schlaf zu, jedenfalls keinen, der ihm gewöhnlich vergönnt war.

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