Deus Blue. Mario Degas

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Deus Blue - Mario Degas

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Sonnenstrahlen blendeten mich. Erst als ich eine gute Strecke zurückgelegt hatte, wurde ich wieder langsamer. Ich blickte nach oben, wo der Himmel all sein Blau aufbot. Mit der rechten Hand schirmte ich die Sonne so weit ab, dass sie mir nicht mehr die Sicht nahm und ich dennoch die Wärme auf meiner Haut genießen konnte. So schön und rein, neckte sie mich und ließ mich dabei vergnügt glucksen. Ich hatte sie schon vermisst, die Sonne, wie sie über uns schwebt und uns zum Lachen animiert. Gleichzeitig wünschte ich mir, ich hätte sie wahrhaftig gekannt, wüsste, wie sie war, als es sie für uns Menschen noch gab. Was ich kennengelernt hatte, waren bloß Geschichten, erzählt von denen, die mit ihr aufwuchsen. Doch wie die Sonne einmal aus dem Himmel herab schien, so schien sie seit einiger Zeit auch in mir. Ich meinte oder glaubte es zumindest, dass ich nur ihretwegen hier war. Sie war mir ein Trost, als ich ihn brauchte, und diente mir als imaginäre Zuflucht.

      Unvorbereitet jagte mir ein Schauer über den Rücken, als wäre da noch eine Empfindung; etwas Kaltes, das sich wie ein Film über mir ausbreitete. Es war weit, weit weg und doch auf einmal so nah. Die Kühle gewann die Oberhand und vertrieb die wärmende Sonne.

      Ich ging ein paar Schritte, blieb dann aber abrupt stehen. Ich war nicht mehr länger alleine im Wald – eine Person stand mir direkt gegenüber, keine zwanzig Schritte entfernt. Regungslos verharrte sie vor einem natürlichen Teich, auf dem einzelne Blätter trieben. Ich konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, in welche Richtung die Person schaute, denn ihr Gesicht war von einem weißen Schleier verdeckt; ein schöner Schleier, aber unvollkommen, denn da, wo ein Hochzeitskleid hätte sein müssen, trug sie etwas, das aussah wie das Fell eines Tieres, nein, das Fell mehrerer Tiere. Flicken von Tierfell und Tierhaut, willkürlich aneinandergereiht, über Brust, Bauch, Beine gespannt, verteilt über den gesamten Körper mit seinen weiblichen Rundungen. Es war, als würde sie die Tiere des Waldes auf ihrer Haut spazieren tragen – surreal, aber auf eine besondere Art schön, ein Fabelwesen, welches einer Fantasiewelt entliehen war. Der Anblick führte zu einer Veränderung an mir: Sie betraf meine Wangen, die sich nach oben wölbten und mir ein Grinsen ins Gesicht zauberten.

      Ihre Arme und Hände bildeten die sprichwörtliche Ausnahme. Dort war sie ganz der Mensch, der sie unter all dem Schein zu sein schien. Bei genauerer Betrachtung sprang mir ein Detail besonders ins Auge: Am Ringfinger der linken Hand trug sie eine funkelnde Sache. Ich erkannte den Ring, der einmal ein Verlobungsgeschenk war. Sie trug ihn nicht mehr, sondern wieder.

      Ich war so auf den Ring fixiert, dass ich nicht bemerkte, wie sich die Tierhäute und -felle von ihr lösten und zu Boden fielen. Es fing am Hals an und setzte sich bis zu den Füßen fort. Manche Teile lösten sich dabei schneller als andere, blätterten sanft ab oder zerbröselten in viele kleine Stücke. Mit der letzten Feder ging auch die Scham, und da stand sie nun, wie Gott sie schuf. Am Ende musste sogar ihr Schleier dran glauben. Doch statt ihres Gesichts sah man nur mehr eine Maske.

      Mein Körper, jung, wie er war, verstand die Zeichen nicht – keine äußerliche Regung, kein Zucken der Schultern und kein Pochen der Lenden gingen von mir aus. Mein Geist jedoch, weit entfernt und doch so nah, setzte das Puzzle zusammen. Mein Gegenüber, die Frau, der ich mein Herz einmal geschenkt hatte, gab eine tadellose Vorstellung ab. Sie vereinte eine zurückliegende Vergangenheit, eine zur Wirklichkeit gewordene Gegenwart und eine vormals erdachte Zukunft auf sich. Der Ring, das Tierfell, der Schleier und die Maske – sie alle waren untrügliche Beweise für das, was hinter uns lag, uns ausmachte und verband; sie waren mir Nervennahrung und Wunschvorstellung zugleich. Ich wusste nur nicht auf sie zu reagieren, blieb ich doch immer noch wie ein Baum an Ort und Stelle stehen, umringt von den wahren Bäumen. Ich wartete auf ein Wort von ihr, doch ich wartete vergeblich – wenn einer sprach, dann war es der Wald.

      So ergriff ich denn die Initiative: Ich setzte mich in Bewegung, ging langsamen Schrittes auf sie zu, ohne sie auch nur für einen kurzen Moment aus den Augen zu verlieren. Auf halbem Wege spürte ich einen Widerstand. Mein rechter Fuß hatte sich in einer Baumwurzel verhakt, die zuvor noch nicht dort war. Ich verlor das Gleichgewicht und stürzte wie ein Sack Steine zu Boden. Dabei sah ich immer und immer wieder den Fall aus meiner Perspektive, sah, wie sich meine Hände verzweifelt in den Boden krallten, um den Sturz zu federn, und sah, wie das Gras mir näher und näher kam.

      Dann wurde es dunkel.

      Das Flackern der Leuchtstoffröhre über mir holte mich zurück. Obwohl mein Gesicht völlig vom Wasser bedeckt war, vernahm ich das überschwängliche Blitzen nur zu deutlich, das den Raum ein ums andere Mal erhellte. Ich stützte mich vom Beckenboden ab, auf den ich flach und steif gelegen hatte, und tauchte mit dem Kopf voran auf. Sofort sprudelte Antonin Dvorak über mich herein. Aus den von der Decke hängenden Lautsprecherboxen ertönte seine Streicherserenade, die mir so vertraut schien. Ich blickte zum Rand des Beckens, wo, eingefasst in ein LED-Modul und halb vom Wasser bedeckt, die Ziffern 5 6 1 4 standen – ich hatte fast eine Stunde ausgehalten. Es war mein neuer persönlicher Rekord, nur wurde der von der Badeleitung nicht gerne gesehen, empfahl diese doch höchstens dreißig-minütige Ausflüge ins Reich der Träume – wie man das Abtauchen in die atembare Flüssigkeit auch nannte –, wollte man keine bleibenden Schäden – welche Schäden genau, verschwieg man – davontragen. Doch für einen Träumer war es schwierig, die Kontrolle über sich und seinen Geist zu behalten, machte dies doch den Kick aus. Jeder Gedanke war frei und inspirierte zum nächsten freien Gedanken, bevor beim nächsten Besuch vielleicht schon ein neues Erlebnis auf einen wartete.

      Das Tadpole-Badehaus war eine der ersten Einrichtungen ihrer Art und dementsprechend schlicht aufgebaut. Die Kabinen, welche jeweils ein mannsgroßes Becken beherbergten, waren unscheinbar und auf Luxus, wie eine Heizlüftung, musste man verzichten – ein Missstand, über den ich hinwegsehen konnte, schätzte ich doch die Abgeschiedenheit des Bades und die damit einhergehende Diskretion. Jedes Mal, wenn ich eine Auszeit von der Arbeit oder der Wirklichkeit brauchte, verschlug es mich ins Wasser. Schlaf und Traum waren dabei das Ziel jedes Gastes. Und es stimmte: Nirgendwo war man seinen Träumen so nah wie in einem der Pole-Badehäuser.

      Ich stieg aus dem Becken, war die Wärme doch bereits verschwunden, womit nur noch die Kälte blieb. Auf einem Stuhl neben der Tür lagen meine Jeans und das Shirt, daneben, unachtsam auf dem Marmorfußboden abgelegt, ein gesponsortes Handtuch in der Trendfarbe Schweinchenrosa. Ich trocknete mich eilig ab und schlüpfte in meine Klamotten. Dabei entging mir nicht die Überwachungskamera, die bewegungslos und einsam in der Ecke hing. Dass sie außer Betrieb war, erkannte man nur an dem durchtrennten Kabel. Jemand hatte dem Spuk wohl auf seine Weise ein Ende bereiten wollen. Mich schockten die Kameras nicht – nicht mal die im Bad –, hatte ich mich doch bereits an sie gewöhnt.

      Unter meiner Jacke lagen mein Waffenholster samt Pistole und meine Dienst-Erkennungsmarke. Ich hängte mir das Holster um die Schultern und quetschte die Marke in die Hosentasche, bevor ich die Kabine verließ. Die Musik pausierte für einen kurzen Moment, als ich die dünne, die ganze Zeit über unverschlossene Tür öffnete und mit einem dumpfen Klicken ins Schloss zurückfallen ließ.

      In die Gänge verirrte sich nur wenig Licht, sodass man sich an die meist weit entfernten Lichtquellen halten musste, wollte man den Weg nach draußen finden. Ich orientierte mich am blaustichigen Quadrat vor mir, welches mich geradewegs auf die Tür mit der Aufschrift »Realität« zuführte – das Wort war behelfsmäßig mit wasserfester Farbe angebracht. Rechts davon an der Rezeption kauerte ein junger Spund, ein Deck in der Hand, der mit sich selbst Bube-Dame-Ass spielte. Er blickte kurz auf und grunzte dabei, was man, wenn man es darauf anlegte, auch als »Hals- und Beinbruch« interpretieren konnte. An diesem Punkt gab es kein Zurück mehr: Die Realität hatte mich wieder.

      Neu New York traf mich mit voller Wucht, doch ich war vorbereitet. Ich stand am Rand des Cardos, was Lärm, Lichter und noch mehr Lärm bedeutete. An jeder Hausfassade prangte mindestens eine Neonreklame; mal winzig klein, mal überdimensional groß und in XXL. Werbung und Propaganda hielten sich dabei die Waage; wichtig war die Präsenz auf den Straßen und das Vorhandensein im Gedächtnis der Einwohner dieser Stadt, die tagtäglich

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