Deus Blue. Mario Degas

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sie vorsorglich mitzunehmen. Ich wusste nicht, welche Art Räuber mich da draußen erwartete. Ich hoffte auf klein und flauschig, rechnete aber unterbewusst mit groß und gefährlich und damit einhergehend mit Herzschmerz statt einer unbändigen Freude als Teil des Wiedersehens. Seit der Botschaft dachte ich unentwegt an meinen kleinen Freund. Wer, wenn nicht Quentin, konnte sie mir geschickt haben? Sollte ich es für das halten, was es vermutlich nicht war: Einen Hinweis auf ein neues Experiment meines Ziehvaters, ausgeheckt im stillen Kämmerlein, um der Überraschung die Würze zu geben? Ich wusste es nicht. Aber am Ende triumphierten die grauen Zellen über den Rest. Ich prüfte die Pistole ein letztes Mal und steckte sie dann zurück ins Holster.

      Als die Fahrertür aufschwang, war mir erst, als wäre sie nicht geöffnet wurden. An der anhaltenden Stille hatte sich nichts geändert. Dies, so sagte ich mir, hatte seine Gründe: Nirgendwo in der Oberwelt war es so ruhig wie tief in den Eingeweiden von Sektor C. Hier konnte man noch einsam sein.

      Behutsam betrat ich das Depot, vorbei an einem Schild mit der Aufschrift Trains Ldt. Die Farbe der Buchstaben blätterte mit jedem Windzug mehr und mehr ab, sodass teilweise nur noch ein schwarzer Rand übrig blieb. Allem hier setzte die Zukunft zu; einer Zukunft, in der für Nostalgie außerhalb der Häuser und Wohnungen kein Platz mehr war.

      Jeder kannte die Geschichte des Bahndepots, war mit ihr vertraut. Vor zwanzig Jahren fuhren vom Depot aus noch Züge quer durch Neu New York und in die Bezirke außerhalb. Hauptsächlich zu dem Zweck, Waren wie Klamotten oder Arzneien von A nach B zu befördern. Das alles geschah im Namen der Exekutive. Trains Ldt. war ein rein verstaatlichtes Unternehmen und lebte, wie man zu sagen pflegte, von der Hand in den Mund. Anfangs hielt es die Exekutive für kostengünstiger, Waren auf Schienen statt auf dem Luftweg zu transportieren. Doch die stetige Technologisierung machte auch vor den Zügen nicht halt. Bald schon sattelte man auf Luftschiffe um, die, effizient hoch hinaus kommend, als riesige Wolken am Himmel schwebten. Nur wenige Züge konnten dem Zerfall entgehen, diejenigen, die für den Personenverkehr unerlässlich waren und auf das Depot nicht mehr angewiesen waren. In meiner Wohnung stand die Miniaturausgabe eines dieser Kolosse, die ohne Unterbrechung 24 Stunden am Stück durch die Stadt und das angrenzende Umland fuhren.

      Ich blickte mich um auf der Suche nach irgendetwas oder irgendjemanden. Das Depot war aufgegeben, ich wusste jedoch, dass es nicht verlassen war. Menschen nutzten die Fläche weiterhin, wenn auch nur äußerst selten zur Arbeit. Als im Untergrund der Platz zum Leben rar wurde, verschlug es viele Bewohner an die Oberfläche. Das Depot wurde ein Zufluchtsort für die Zugezogenen. Die stillgelegten Züge und ausrangierten Waggons wurden zu Schlafstätten und Wohnheimen umfunktioniert. Für die modernen Nomaden, die sich an diesem ihnen so neuen Standort niederließen, hatte es nicht besser laufen können.

      Wenn da nicht die Exekutive gewesen wäre. Diese sah es nicht gerne, dass immer mehr Menschen, ob legal oder illegal, in die Oberwelt strömten. Recht bald wurde dem in Form der Einheit ein Riegel vorgeschoben. Sie sollte für Ordnung sorgen, wo diese bereits verloren geglaubt schien. Das Depot wurde geräumt. Familien verloren ihr Zuhause und landeten sprichwörtlich in der Gosse. Ich stand damals auf der Seite des Räumtrupps, auf der Seite der Einheit und gehörte zu den Gewinnern. Es war einer meiner ersten Einsätze für die Einheit. Jung und naiv, wie ich war, hätte ich alles getan, ohne mir zuvor darüber den Kopf zu zerbrechen. Heute wusste ich, dass es keinen Grund gab, die Menschen von hier zu vertreiben; heute zählte ich mich nicht mehr zu den Gewinnern. Ich zählte mich zu den Verlierern.

      Das Heute war die Vergangenheit in der Gegenwart. Was hatte überwogen nach all der Zeit: Gewinner oder Verlierer?

      Langsam zog sich der Regen zurück. Was blieb, waren die Wasserlachen entlang meines Weges und der Matsch unter meinen Schuhen. Ich stampfte an den Gleisen entlang, die tief in den Boden eingesunken waren oder öffentlichkeitswirksam über den Grund zu schweben schienen. Es waren Schienen nach alter Bauweise und nicht die so sehr nach Metall glänzenden Stahlplatten, die sich just in diesem Moment durch die Straßen Neu New Yorks schlängelten. Dieser Ort atmete das Vergangene auf jedem Quadratmeter. Vor mir türmte sich der Kadaver eines Zuges auf, die Lok verschmiert mit Graffiti; der Stahl verbogen und deformiert. Viele Waggons waren noch mit Holz verkleidet oder waren es zumindest einmal gewesen. Überall lag Holz verteilt herum, abgesplittert oder abgerissen.

      In der Ferne hörte ich den Antrieb eines Clouds, der weit über mir dahinschoss – nicht auszumachen am Horizont, da verdeckt von all den anderen Wolken.

      Ich stand jetzt inmitten des Bahndepots flankiert von Verfall und Aufgabe. Wie ich es häufiger tat, blickte ich auch jetzt auf mein Handgelenk, wo der Zeiger meiner Uhr sich unnachgiebig links herum drehte und nicht, wie üblich, rechts. Ein Unikat, war das Zifferblatt meiner Uhr doch ab Werk spiegelverkehrt. Es war kurz nach halb sechs am Abend. Schon so spät, dachte ich bei mir. In einer halben Stunde würde sich das Alarmsignal meiner Uhr bemerkbar machen, mich vertreiben oder erinnern. Ich hoffte auf die Zeit, die mir zeigen würde, was für meine Augen noch unsichtbar war.

      Kaum hatte ich darüber nachgedacht, spürte ich eine Regung, die nicht von mir ausging. Ich war plötzlich kein einsamer Cowboy mehr.

      »Detective«, sprach eine tiefe Männerstimme direkt hinter mir. Ich drehte mich geschwind auf dem Absatz herum.

      Ein Mann stand zwischen zwei Waggons. Er sah alt aus, geradezu zerbrechlich. Mit seinem zerzausten schulterlangen Haar und dem langen, zerfledderten Stoffmantel um seine Schultern entsprach er nicht dem Archetyp eines Kriminellen. Dennoch griff ich instinktiv an meine Pistole, zog sie aber nicht aus dem Holster. Ich wartete auf ein weiteres Wort oder sogar einen ganzen Satz – doch weder das eine noch das andere kam.

      Er machte keinerlei Anstalten den Hampelmann zu spielen und blieb dabei ruhig und gelassen auf einem Punkt stehen. Seine Augen suchten nach etwas in meinem Gesicht.

      »Sind Sie der Räuber?«, fragte ich in einem freundlichen Tonfall. Er antwortete nicht.

      Etwas ging von ihm aus, es war aber keine Gefahr. Ich schätzte mein Gegenüber auf Mitte sechzig, betrachtete das Gesicht, die Furchen um Nase und Mund, die Falten auf der Stirn.

      »Ein Sturm zieht auf«, kam von ihm.

      Ich sah hoch zum Himmel, erblickte aber keine bedrohlich wabernden Wolken, die sonst immer einem Sturm vorausgingen.

      »Sind Sie der Auslöser?« Standardfrage Nummer eins. »Haben Sie sich Hilfe suchend an die Einheit gewandt?« Standardfrage Nummer zwei. Ich fügte – nicht mehr nach Lehrbuch – hinzu: »Haben Sie nach uns verlangt?«

      »Nach Ihnen«, antwortete er. »Nur nach Ihnen, Detective.«

      Ich musterte ihn noch eingehender, als ich es bereits schon getan hatte: »Kennen wir uns?«

      »Du hast dir Rang und Titel zu eigen gemacht, wie ich sehe. Und doch fällt es dir schwer, dich zu erinnern!?« Er schloss die Augen, öffnete sie dann aber wieder abrupt. »Was ist von deiner Vergangenheit geblieben?«

      »Sagen Sie mir Ihren Namen, dann kann ich Ihnen vielleicht helfen«, entfuhr es pflichtschuldigst meinen Lippen.

      »Was ist ein Name wert, wenn die Geschichte bereits geschrieben steht, Sean?«

      Ich war erstaunt: »Sie wissen, wer ich bin?«

      »Der kleine Sean; das warst du einmal. Ich bin mir nur nicht mehr ganz sicher, wer du jetzt bist.« Er zeigte mir ein Lächeln. »Als ich dich fand, warst du zwölf. Eine einsame Seele, die von ihrer Mutter im Stich gelassen wurde.«

      »Wer sind Sie?«, wollte ich noch einmal wissen. Diesmal mit mehr Nachdruck.

      Er schien davon unbekümmert:

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