Angelo. Martin Renold

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Angelo - Martin Renold

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zuvor ein buntes Gewirr von Licht und Farben war. Angelo wusste nichts davon. Die ganze Vergangenheit seiner kleinen, aber doch so wichtigen Person war gleich schwarz und undurchsichtig wie die dunkle Nacht. Und wer hätte sie ihm erhellen können? Es wusste ja niemand mehr über ihn als er selber. Ist es da verwunderlich, dass ihm der Ort, wo er zur Welt kam, unbekannt war? Wahrscheinlich war dieser Ort irgendwo in einem schmutzigen Haus in der engen, übel riechenden Gasse der sonst so glanzvollen Stadt Rom, die sich die Ewige nennt. Noch weniger verwunderlich ist es unter diesen Umständen, dass er auch darüber keine Auskunft zu geben wusste, wie lange er schon auf dieser Erde weilte, von der er sich gar keinen Begriff machen konnte. Ihm war, als sei er schon immer hier gewesen. Und dass man einmal geboren wird, irgendwo in einem schmutzigen Haus in einer übel riechenden Gasse, war eine Tatsache, die es in seinem Bewusstsein nicht gab. Es interessierte ihn auch nicht im Geringsten, wie alt er in Wirklichkeit war; denn die meisten seiner Kameraden waren über ihr Alter gleich unwissend wie er. Und darum schwieg man darüber. Und wenn ihn doch einmal jemand fragte, so sagte er einfach, er sei gleich alt wie Lorenzo, und der behauptete wenigstens, er sei sieben Jahre alt. Angelo sagte dies, weil er gleich groß war wie Lorenzo. Also musste er doch auch gleich alt sein. Manchmal hatte es Streit gegeben, wenn ein Kamerad ihm nicht hatte glauben wollen. Aber diese Zwiste waren immer bald vergessen. Oft hatte Mario geschlichtet. Aber die Streitfrage hatte auch er nicht lösen können. Die konnte überhaupt niemand lösen.

      Dies war nun schon lange her, als Angelo noch nicht sein eigener Herr und Meister war. Jetzt fragte ihn niemand mehr nach seinem Alter und seiner Herkunft. Die spielen keine Rolle mehr, wenn man eine eigene Wohnung hat, und eine solche hatte er jetzt. Allerdings nicht allein, sondern zusammen mit Mario und Lorenzo. Jetzt sorgte er für sein Leben allein. Manchmal schon auch zusammen mit Mario und Lorenzo. Oft aber doch meistens ganz allein.

      Aber was war nicht immer so gewesen.

      Im Waisenhaus

      Angelo erinnerte sich nicht mehr an jene Zeit, da er erst mit seinem schwachen, zarten Körper in dieser harten, unbarmherzigen Welt gelebt hatte, seine Seele aber noch in der anderen Welt, aus der wir alle herkommen, zu weilen schien. Aber an die Zeit, die jener folgte, konnte er zurückdenken. Wenn er dies tat, ungern zwar, dann sah er sich im Kreis von ein paar Dutzend Kindern. Viele waren gleich groß wie er, andere waren älter, schon große Knaben, die Angelo mit Achtung und Bewunderung betrachtete; denn sie kannten viele Dinge, die er damals noch nie gesehen hatte. Sie waren schon oft in der Stadt gewesen, manchmal im Geheimen, und sie erzählten den Jüngeren davon mit leuchtenden Augen. Angelo hätte auch gar so gerne einmal den Petersdom aus der Nähe gesehen und die vielen andern schönen Sachen, die es in der Stadt zu bewundern gab. Mario erzählte ihm oft davon, und Angelo war stolz, dass er zu den Bevorzugten gehörte, die ihm zuhören durften. Viele der Kinder waren aber noch kleiner als Angelo. Manche konnten noch gar nicht gehen und schrien den ganzen Tag hindurch und oft auch in der Nacht.

      Da waren auch zwei alte Frauen, immer schwarz gekleidet mit langen, faltigen Röcken. Sie hatten strenge Gesichter, und beide trugen Brillen mit runden Gläsern vor ihren Augen. Angelo fürchtete sich vor ihnen. Auch die andern Knaben und Mädchen hatten Angst; denn es gab viel Schläge und wenig Essen. Manchmal, wenn sie nicht gehorsam waren, wurden sie mit dem Stock bestraft, und dann mussten sie obendrein erst noch ohne Nachtessen ins Bett. Dabei hatten sie doch schon den ganzen Tag gehungert. Ihr bloßer Aufenthalt in diesem Haus wäre schon Strafe genug gewesen. Dies glaubten wenigstens Einige von ihnen.

      Außer den beiden Frauen war auch noch ein lieber Gott da. Doch Angelo hatte ihn noch nie gesehen. Aber die Kinder mussten immer vor dem Essen den lieben Gott um das Brot bitten und ihm danken für das Wenige, das sie bekamen. Dazu mussten sie immer die Hände falten und ein ernstes Gesicht machen. Keiner durfte dabei lachen.

      In einigen Zimmern waren Bilder aufgehängt. Auf vielen war eine Frau zu sehen, die fast immer einen blauen, weiten Mantel trug und in ihren Armen ein Kind hielt. Das war Maria, die Mutter Gottes. Angelo wusste nicht, was das bedeutete. Man hatte ihm nur gesagt, dass das Kind nicht der liebe Gott sei – das hatte er sich auch nie vorgestellt –, sondern das Christkind. Und sein Vater war der liebe Gott. Und die Frau mit dem blauen Mantel war die Mutter des Christkindes und des lieben Gottes. Aber das war viel zu schwer zu verstehen. Wie sollte er, Angelo, dies verstehen, wenn es nicht einmal seine älteren Kameraden verstanden?

      Manchmal kam ein Mann, der war so alt wie die beiden Frauen. Auch er war ganz schwarz gekleidet. Er trug einen langen Roch – nicht wie die gewöhnlichen Männer – und war auch immer ernst und machte ein böses Gesicht. Die Knaben waren froh, wenn er wieder ging. Er sagte ihnen nämlich, sie sollten gehorsam sein und sich nicht mit den Mädchen streiten. Die beiden Frauen waren immer freundlich, wenn der schwarze Mann da war. Der konnte doch nicht der liebe Gott sein. Denn es gab noch viele solche, die wie er in schwarzen Röcken herumliefen. Angelo hatte sie schon oft gesehen, drunten in den Straßen. Überall traf man sie. Der konnte also ganz gewiss nicht der liebe Gott sein. Zudem hatte er ihnen noch nie Brot gebracht. Und der liebe Gott hätte wohl kaum ein so böses Gesicht mit so stechendenden Augen, vor denen einem bangte.

      Angelo hatte einmal Lorenzo gefragt, wer denn der liebe Gott sei, aber Lorenzo hatte es auch nicht gewusst. Dann hatten sie Mario gefragt, und der hatte ihnen gesagt, sie sollten doch nicht glauben, dass der liebe Gott das Brot bringe. Das sei ein Märchen. Er habe selber schon oft beim Bäcker Brot holen müssen. Es gebe überhaupt keinen lieben Gott. Er wenigstens habe ihn noch nie gesehen. Lorenzo hatte es zuerst nicht glauben wollen. Ob er nicht doch zur Sicherheit noch den schwarzen Mann fragen sollte? Aber er getraute sich nicht. Auch Angelo wolle lieber nicht fragen. Der wisse es doch auch nicht, meinte Mario. Er würde ihnen gewiss nicht die Wahrheit sagen. Die großen Leute sagen überhaupt selten die Wahrheit.

      Von da an glaubten auch Lorenzo und Angelo nicht mehr daran, und oft zwinkerten sie sich während des Gebetes über den Tisch zu. Sie wussten es besser, und ihnen konnte man nichts vormachen. Doch trug es ihnen viele Püffe und Schläge ein, wenn es die Frauen sahen, und einmal waren sie vom Tisch weggeschickt worden. Die Frauen hatten sie nach dem Grund ihres spöttischen Lachens gefragt, und Lorenzo hatte geantwortet, sie wüssten schon, dass es keinen lieben Gott gebe. Da hatten die beiden Frauen getobt und die drei Knaben als Sünder vor die anderen Kinder hingestellt. Als der schwarze Mann wieder einmal gekommen war, hatten sie es ihm gesagt. Der hatte etwas von kindlichem Unverstand gemurmelt und hatte ihnen dann eine lange Rede gehalten und ihnen gesagt, sie müssten es glauben, dass es einen lieben Gott gebe. Der habe die Welt erschaffen und alles, was auf dieser Welt lebt. Angelo wusste nicht mehr, was er sonst noch alles erzählt hatte. Sie hatten nicht auf ihn gehört. Sie wussten es ja besser. Aber sie sagten nichts mehr, damit sie nicht wieder Prügel bekamen. Von da an galten sie als die schwärzesten Schafe in der sonst schon dunklen Herde.

      Einmal waren drei Knaben durchgebrannt. Da waren die beiden Frauen sehr zornig gewesen. Und die Kinder hatten sich vor ihrem Zorn gefürchtet.

      Am dritten Tag waren zwei der Ausreißer reumütig wieder zurückgekehrt in das muffige Haus. Aber sie hatten ihre Reue noch nicht sogleich bekannt, sondern waren stillschweigend mit den anderen Kindern am Tisch gesessen. Aber nicht lange, so waren sie bemerkt worden, und sie hatten den Stock heftig zu spüren bekommen. Dann hatten sie ins Bett gehen müssen und nichts zu essen erhalten, obwohl sie den ganzen Tag noch kein Stückchen Brot oder sonst etwas gegessen hatten.

      Den dritten Flüchtling hatte nach einer Woche die Polizei zurückgebracht. Sie hatten ihn erwischt, als er bei einem Bäcker ein Brot hatte stehlen wollen. Auch er bekam Schläge und wurde drei Tage lang in ein dunkles Zimmer gesperrt, wo er fast nichts zu essen bekam.

      Mario war dieser drei Ausreißer wegen schlecht gelaunt. Auch er hatte Fluchtpläne gehabt, aber nun musste er vorderhand von ihrer Ausführung absehen – nur vorderhand, wie er behauptete und einigen eingeweihten Freunden, darunter auch Angelo und Lorenzo, erklärte. Sobald der Vorfall vergessen sei und die

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