Vom Leben verlassen. Imke Borg
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Noch viele unbeschreibliche und unvergessliche Momente er- lebte er mit Sevim hier in ihrem gemeinsamen Urlaub. Ob beim Rumlaufen am endlosen Strand, ob beim Sitzen auf den Dünen, wo sie sich an den gewaltigen Wellenbergen, an den brechenden Kämmen und an der aufspritzenden Gischt erfreuten, egal wo sie sich gerade rumtrieben, überall roch es nach Liebe. Und abends kam dann nicht selten eine ganz romantische Stimmung auf wenn sie in trauter Zweisamkeit die beeindruckenden Sonnen- untergänge mit den grandiosen Lichtspielen auf sich wirken ließen. An anderen Abenden machten sie es sich einfach im Garten vor ihrem Appartement gemütlich und beobachteten die blassen Geckos, wie sie an der Hauswand nahe der Lampe klebten und auf die Nachtfalter warteten.
Murad und Sevim genossen die mediterrane Leichtigkeit in vol- len Zügen, mal ausgelassen mal still. Das Leben meinte es richtig gut mit ihnen. Gleich an ihrem ersten Sonntag führte sie die Route zum Markt. Es ging über holprige Wege vorbei an me- terhohen Agaven und duftenden Zitrusbäumen. An den We- gesrändern krümmten sich riesige Feigenkakteen unter der Last ihrer Früchte. Und auf dem Markt war wie jeden Sonn- tag die Hölle los, wenige Spanier, überwiegend Touristen, da- runter viele überwinternde Rentner aus dem europäischen Norden. Kein Wunder, das Wetter passt, auch im Winter. Der Strand ist zum Greifen nah, und immer ist irgendwo was los, wenn man das denn will. Um die Ruhe zu genießen, kommen nur die Wenigsten an die Costa Blanca. Hier werden keine Bürgersteige hochgeklappt, hier pulsiert das Leben das ganze Jahr. Und tattrige Greise sucht man vergeblich. Die Mehrheit dieser älteren Generation ist noch recht aktiv, lebenshungrig und voller Träume, von Altersmüdigkeit keine Spur. Doch nun schlenderten die Beiden erst mal Hand in Hand durch die engen Gassen zwischen den Buden. Es gab hier so viel zu entdecken, alles was man braucht oder eher nicht braucht oder schon hat von Grünzeug über Kleidung, Bettwäsche, Blumen, Handtaschen, Musik, Gesundheitsprodukten und zur Freude von Sevim auch Tücher. Da konnte sie natürlich nicht widerstehen. Ein Langschal in dezenten Farben musste mit.
In der Markthalle im nahen Torrevieja stöberten sie ebenfalls ger- ne rum, vor allem wegen der ganz frischen Waren, angefangen vom Fisch, über Obst und Gemüse und natürlich bis hin zu den spanischen Spezialitäten. Alle regionalen Produkte wurden ange- boten. Vorm Verlassen dieses kulinarischen Paradieses entdeck- ten sie gleich neben dem Bäcker die berühmten Churros. Da kamen sie einfach nicht dran vorbei. Alleine schon wegen des Duf- tes waren sie denen wehrlos ausgeliefert. Murad und Sevim gönn-ten sich gleich ein Dutzend davon und waren begeistert von den köstlichen, luftigen mit Zucker bestäubten traditionellen Kringeln. Die Spanier lieben dieses frittierte Gebäck. Oft ist das schon ihr Frühstück. Besonders nach einer langen Nacht sieht man häufig junge Leute mit Churros durch die Straßen ziehen.
An ihrem letzten Urlaubsabend stand Sevim in der Küche, vor sich auf der Arbeitsplatte eine Plastikunterlage, darauf eine scharfe spitze Schere und eine Küchenrolle. Sie blies in ihre Einmalhandschuhe, zog sich die über und drehte den Meerestieren als erstes den Kopf ab. Dann begann sie entlang des Rückens ganz fachmännisch mit dem Aufschneiden des Panzers. Das darunter liegende Fleisch öffnete sich und eine mal weiße, mal graue bis schwarze Ader war freigelegt, also der gesamte Verdauungstrakt mit Magen und Darm in einem. Mit Daumen und Zeigefinger zog sie nun den kompletten Darm vorsichtig heraus. Nachdem sie dann alles sorgfältig gereinigt hatte, bereitete sie die zum Braten fertigen Garnelen mit Olivenöl, Kräutern und Knoblauch in der Pfanne zu. Währenddessen deckte Murad perfekt den Tisch. Eine Bougainvillearanke legte er als Deko in die Tischmitte, drei Teelichter erhellten den Esstisch nur schwach. Teller, Besteck und Servietten lagen bereit für ihr Abschiedsessen. „Köstlich, mindestens drei Sterne“, lobte Murad Sevims leckere Garnelen. „Probier mal“, dann spießte er eine mit seiner Gabel auf, dippte sie in Alioli und schob sie Sevim in den Mund. So machten sie wechselweise weiter und hatten nicht wenig Spaß dabei. Rioja und knuspriges Weißbrot durften dabei natürlich nicht fehlen. Die Zwei alberten viel rum und benahmen sich ausgelassen wie Frischver- liebte. Und immer wieder gewann die Lust die Oberhand.
Dieser Urlaub hat Murad und Sevim richtig gut getan und er hat sie noch fester zusammengeschweißt. Sie hatten es auch optimal getroffen. Die Unterkunft, das Essen, sogar das Wetter hatte mitgespielt. Aber das ist ja in Spanien keine Seltenheit. An ihren All- tag in der Schweiz verschwendeten sie keine Gedanken. Erst beim Kofferpacken dachte Murad etwas wehmütig daran, dass diese entspannte gemeinsame Zeit bereits morgen zu Ende geht. „Eigentlich jammerschade, dass wir morgen schon wieder zurück müssen“, bedauerte auch Sevim.
Murad fühlte sich nach diesen drei Wochen noch stärker mit Sevim verbunden. Beide waren sich jetzt ihrer Zuneigung ganz sicher. Sie waren füreinander geschaffen, konnten sich ein Leben ohne den anderen gar nicht mehr vorstellen. Von einer richtigen Familie mit Kindern, davon träumten sie beide, wenn sie aneinander gekuschelt ihre Zukunft planten und schon entsprechende Pläne schmiedeten. Zusammenziehen wollen sie auf jeden Fall. Murads Wohnung ist schließlich groß genug für Zwei.
An all diese faszinierenden Momente erinnert sich Murad ge- rade, während er, wie fast täglich in letzter Zeit, in Selbstmit- leid versinkt, sich in seinen vier Wänden in Schlieren in der Schweiz vergräbt und nur noch auf dem Sofa rumlungert. Seine Wohnung ist vernachlässigt, er selber meist ungekämmt und unrasiert. Nichts ist mehr so wie es einmal war. Überall hat sich der Schmerz breitge- macht. Jede Zelle seines Körpers ist betroffen. Wieso tut Verlust so weh? fragt er sich. Mit seinen Händen befühlt er Sevims Tuch aus Spanien. Er hält es an sein Gesicht, drückt es ganz fest an sich. Es duftet noch immer nach ihr. In seinem Hals klumpt ein Kloß, aus seinen Augen rinnt die Traurigkeit. Und ständig befällt ihn diese tiefe Sehnsucht. Er fühlt sich leer. Seine Motivation ist weg. Sein Leben ist verlassen. Die Geräusche von der Straße nimmt er nicht wahr. Draußen geht alles seinen gewohnten Gang, doch bei Murad scheint die Zeit still zu stehen. Wenn er morgens nach einer oft schlaflosen Nacht so daliegt, hofft er noch immer dass alles nur ein Traum ist. Aber es ist kein Traum. Es ist bittere Realität. Niemand ist mehr da, der seine Seele anschubst. Geblieben sind ihm jetzt, fast drei Jahre nach diesem Urlaub, nur noch die Bilder in seinem Kopf und die wenigen auf dem Smartphone.
Monika und Peter, England, Anfang August 2022
Gedankenverloren schaut Monika aus dem Fenster des Wohnmobils und zieht ein recht mürrisches Gesicht. Kein Wunder bei dem Wetter. „So ein Mist aber auch, mit den Hunden um den Platz lau- fen, das können wir heute vergessen. Gestern schon den ganzen Tag über dieser Nieselregen und böige Wind, überhaupt nicht schön. Und dann noch das unaufhörliche Klappern des Holztörchens zum Golfplatz hin, das ging mir auch gehörig auf den Wecker.“ Ihr Rumgenöle hilft alles nichts, denn heute am frühen Mor- gen tobt der Regen noch immer und dicke Nebelschwaden verschmelzen mit der Landschaft. „Hast du denn gestern in der Vorhersage nicht mitgekriegt, dass sich das Wetter im Laufe des Vormittags bessern soll, “ will Peter seine Frau ein wenig besänftigen. „Nein, hab´ ich nicht, noch sieht es ja nicht danach aus.“ Tut es zum Glück aber. Gegen Mittag klart es langsam auf und die Sonne bahnt sich ihren Weg durch die Wolken- decke. Was wollen die Beiden mehr. Postkartentage haben sie auf der Insel eh nicht erwartet. Aber