Vom Leben verlassen. Imke Borg
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Wie erhofft sind sie gut durchgekommen. Peter hat, wie auf der Hinfahrt auch, geschickt, als hätte er nie im Leben etwas anderes gemacht, das Wohnmobil in die Waggons der Bahn gelenkt. Während sich die Fähren über die unru- hige See kämpfen müssen, sitzen Monika und Peter mit ihren beiden Hunden gemütlich im Fahrzeug bei Kaffee und Keksen und nach 35 Minuten im Shuttle unter Wasser ha- ben sie wieder Frankreich erreicht. Entlang der Autobahn nahe Calais kommen ihnen immer wieder kleine Gruppen dunkelhäutiger, männlicher Flüchtlinge entgegen, die so wie es aussieht Richtung Tunnel oder Fähre wollen. Ihr Hab und Gut tragen sie samt Traum von einem besseren Leben in einer Plastiktüte bei sich. Ein trauriges Bild. Monika reibt sich die Augen. „Tja, die Flüchtlinge, seit unsere damalige Kanzlerin vor Jahren unsere Grenzen geöffnet hat, haben sich mittlerweile viele Millionen auf die Socken gemacht und bei uns eingenistet“. „Für Deutschland ist das noch immer keine leichte Heraus- forderung.“ „Und neben dem Flüchtlingschaos haben wir ja auch noch die Eurokrise am Hals. Ob wir all das je in den Griff kriegen, wer weiß?“ „Na ja, so wie es aussieht wollen die, die hier rumirren nach England und nicht nach Deutschland“, meint Peter, presst seine Lippen zusammen und neigt den Kopf von einer Seite zur anderen. „Das ist ja für sie nicht das schlechteste, wenn sie es denn überhaupt auf die Insel schaffen. Aber ob es ihnen tatsäch- lich gelingt, sei mal dahingestellt. Und die Briten haben auch eine etwas andere Einstellung als wir Deutschen. Obwohl die Flüchtlinge tun mir schon leid. Sie führen ein Leben zwischen Gefahr und Hoffnung. Und schlussendlich will sie keiner haben.“ „Aber wir alleine können ja nicht die ganze Welt retten. Da ist auch mal die gesamte EU gefordert.“ Und dann lassen sie die Flüchtlinge hinter sich.
Auf dem Camping „Le Nez Blanc“ nahe Calais bleiben sie für die letzte Übernachtung vor ihrem Zuhause. Endlich mal etwas Zeit ihre Eindrücke aufzufrischen und zu sortieren. Alles in allem hatten sie ja eine sehr interessante Reise, wenn man von den engen Straßen und von den Hecken und Mauern mal absieht, die oft die Fahrbahn begrenzten. Peter kam da nicht selten ganz schön ins Schwitzen, wenn er mit dem Wohnmobil mal wieder Millimeterarbeit leisten muss- te. Aber das war ja nicht der einzige Härtetest, den er zu bestehen hatte. Selbst der Linksverkehr war noch ein ge- ringes Problem. Denn vor allem etliche Nebenstraßen schienen noch aus der Zeit der Pferdefuhrwerke zu stam- men und stellten keine kleine Herausforderung dar. Es war zwar immer wieder schön, die beschaulichen Orte zu durchfahren, wo sich Bilderbuchhäuschen mit kleinen Erkern in verwinkelten Gassen aneinanderschmiegten. Aber Peter wurde dabei einiges abverlangt, dem Wohnmobil auch. Ohne schlapp zu machen, knatterte das unermüdlich über die teils holprigen Wege, mal durch Dörfer mit honig- farbigen Häusern, charmanten Kirchen, Bruchsteinmauern, mal entlang unzähliger Reihenhäuser, von denen eines exakt aussah wie das andere. Lediglich Haustür und Deko variierten. Monika hat auch welche entdeckt mit besonders hübschen Jugendstilelementen.
Bisher war das vereinigte Königreich auf Monika und Peters Wohnmobillandkarte ein weißer Fleck und nur wegen ihrer Hunde. Noch vor Jahren sollten Vierbeiner nämlich für Wochen in Quarantäne bevor sie auf die Insel durften. Also blieb United Kingdom immer ein Tabu. Aber das ist zum Glück jetzt anders. Sonst wären viele abwechslungsreiche und interessante Eindrücke auf der Strecke geblieben. Wenn sie über die schlechten Straßenverhältnisse mal hinwegguckten wurde ihnen viel Reizvolles geboten. Überall sattes Grün, Wiesen, Büsche und viel Wald, in dem häufig lila Rhododendren Boden gut machten um dann klamm- heimlich den ganzen Wald zu erobern. Aber auch erstaun- lich viel plattgefahrenes Wild klebte auf dem Asphalt. Ein weniger schöner Anblick. Von Deutschland kennen sie das so extrem nicht. Und weil England bekannt ist für seine tollen Gärten, war ein Muss natürlich der von Sissinghurst Castle. Er gehört zu den berühmtesten Gärten der Welt, warum auch immer. Laut Reiseführer soll er sogar der schönste Englands sein. Peter und Monika hatten deshalb ihre Erwartungen an diesen über alle Maßen Gelobten relativ hoch geschraubt und von diesem Gartenjuwel mehr erwartet als ihnen tat- sächlich geboten wurde. Die Pflanzenvielfalt war zwar immens aber die Anordnung hielt Monikas kritischem Blick nicht stand. Da bildeten Schattenpflanzen mit mediterranen Gewächsen eine Gemeinschaft um nur ein Beispiel von vielen zu nennen. Monika war schon etwas enttäuscht. Und gepflegt war der Garten auch nicht, wie Beide feststellen mussten. Vielleicht waren sie auch einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Die schönste Anlage entdeckten die Pflanzenliebhaber in Schottland beim Dunrobin Castle. Und Daumen hoch auch für das Eden Projekt in Südengland. Nicht zu vergessen Cornwall mit seiner wildromantischen Küste und einigen sehenswerten Cottage Gärten. Was sie dort etwas traurig fanden war, dass viele Vorgärten verschwunden waren. Sie mussten den Stellplätzen für die Autos weichen. Deshalb gab es statt der Pflanzen an vielen Cottages nur noch Beton. Aber bei den engen Straßen überall blieb den Bewohnern wohl keine andere Wahl. Das malerischste Dorf Englands, Castle Combe, durften sie sich natürlich nicht entgehen lassen, auch das ein Hinguk- ker. In den Sechzigern bildete das die Filmkulisse für „Dr. Doolittle“. Selbst heute noch scheint dort die Vergangen- heit um die Häuser zu schleichen. Ein Da-will-ich-hin war für Monika das 18oo Seelennest Hay-on-Wye im walisischen Nirgendwo. Mehr Antiquariate und Buchläden soll man nämlich sonst nirgends in Europa auf so engem Raum finden. Und ein wachendes Auge auf dieses Idyll hat das vor sich hin bröselnde Castle. Schade nur, dass Monika hier keine Zeit blieb um sich durchzulesen. Denn Peter wartete mit den Hunden schon ungeduldig im Wohmobil. Aber ein absolutes Muss war für Beide wie für alle England- reisenden Stonehenge, dieser merkwürdige Steinkreis aus vielen verschiedenen Megalithbrocken. Faszinierend auch die Fahrt über den Atlantik – Highway, ab Nordcornwall über Wales. Der bot ihnen immer wieder atemberaubende Blicke auf Steilküste und Meer. Besonders interessant und wild erlebten sie die schotti- schen Highlands mit ihrer rauen, bizarren und geheimnis- vollen Landschaft. Der eh schon düstere Eindruck wurde noch verstärkt durch die schweren Wolken, die während ihrer Tour auf der Natur lasteten. Und immer wieder zogen Windböen in langen Schüben von den Hügeln herunter und brachten ihr Reisemobil ins Schwanken.
Der nördlichste Punkt ihrer Inselreise lag zirka 100 Kilo- meter oberhalb von Loch Ness. Ab da ging es dann wieder in südliche Richtung. Die Zeit drängte, leider. Aber einen Blick auf Balmoral Castle nahe Aberdeen wollten sie schon noch werfen. Vielleicht bekommen sie ja sogar die Queen zu Gesicht. So viel Glück hatten sie dann doch nicht. Wenigstens wissen sie aber, dass sich die Queen gerade hier aufhält. Denn der Union Jack flattert aufgeregt im Wind über Balmoral Castle.
Irgendwie war England völlig anders als alle übrigen euro- päischen Länder, die sie schon bereist hatten, aber trotz- dem schön und außergewöhnlich. Saftiges Grün überzieht eine sanft geschwungene Landschaft. Dazwischen wettei- ferten malerische Dörfer und ausladende Strände. Und spektakuläre Burgen, Schlösser und Herrenhäuser gab es ohne Ende zu entdecken, wenn man sie denn mag. Peter mochte sie eher nicht. Irgendwann hatte er die Schnauze so gestrichen voll, dass er sich vehement weigerte auch nur noch ein einziges Castle zu betreten. „Für mich hat es sich jetzt aber mal ausgekastelt“, so zumindest ließ er seinen Frust raus. Er war ja schon froh, dass er aus diesen altehrwürdigen aber maroden Häusern einigermaßen heil rausgekommen ist. Nicht selten hatte er Bedenken, dass ihnen hier die Decke auf den Kopf fallen könnte. Und überall empfand er es stickig und zugig. Der Wind blies durch alle Ritzen, ob- wohl die Fenster geschlossen waren. Während sich Monika überschwänglich für diese alten Gemäuer begeistern konnte, beäugte Peter die recht kritisch und unter ganz anderen Gesichtspunkten. Ihm entging rein gar nichts, nicht der bröckelnde oder schon abgeplatzte Putz, nicht die fingerdicken Risse und auch nicht die feuchten Flecken an den Wänden. Überall roch es modrig, hie und da mal eine Pfütze oder ein Eimer, der das reintropfende Regenwasser auffangen soll. Und durch die Gänge