Löwenschwester. Catrina Balis
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Читать онлайн книгу Löwenschwester - Catrina Balis страница 6
»Wie lange geht die Feier eigentlich?«, frage ich, weil es mittlerweile schon nach zwei ist und ich müde werde. Und weil ich gern wissen möchte, wie lange ich noch ohne große Erklärung wegbleiben kann.
»Weiß nicht. Ich gehe generell um drei Uhr nach Hause, weil Drake nie viel länger durchhält. Hast du mal beobachtet, was der in sich reinkippt, wenn die Nacht lang ist?« Sie lacht, ich schüttele den Kopf.
»Ich denke, ich gehe dann auch. Wobei ich gar nicht weiß, wie ich nach Hause kommen soll.« Ich habe einen Plan. Der ist ganz plötzlich in meinem Kopf. Ohne Ursprung. Ohne Zusammenhang. Mein Unterbewusstsein leistet gute Arbeit. Und Suzan springt tatsächlich darauf an.
»Also wenn du willst, kannst du auch bei uns übernachten. Das Gästezimmer ist frei und Maddie kennst du ja ein bisschen besser.« Ich bin gerettet. Fast zwanzig Stunden keinen Gedanken an den Hammer, der langsam zur Axt geschliffen wird.
»Wenn das geht ... ich meine, meine Eltern würden mich zwar auch abholen, aber das dauert halt ...« Suzan strahlt mich an.
»Du kommst mit, Helena. Ich kenn dich zwar seit ungefähr zwei Stunden, aber du scheinst irgendwie die einzig normale Person hier zu sein ... und die Einzige, die nicht betrunken ist!« Dann wäre das ja geregelt. Ich bin ... zufrieden, nahezu glücklich. Für einen kurzen Moment ohne Blut und Zeichnungen auf meiner Seele. Ich bin frei für diese Nacht, bin ein ganz normales Mädchen. Ich werde akzeptiert, gehöre auf fast schon skurrile Weise zu einer Gruppe dazu, die Interesse an mir als Person zeigt. Nicht als Gegenstand, nicht als Schatten, den keiner sieht, vor dem sich aber trotzdem alle erschrecken. Ich bin Helena und ja! Es geht mir gut! Suzan packt plötzlich meinen Arm und zieht mich auf die Tanzfläche. Aber am Ende stellen wir uns doch wieder an die Wand und reden. Weil wir die Einzigen sind, die das noch können, ohne zu lallen.
Ich gehe mit Suzan allein nach Hause, unbehaglich und gar nicht mehr so gut gelaunt. Wir sind nur zu zweit, weil Damien seinen Bruder mit zu sich genommen hat, damit Suzie in ihrer Geburtstagsnacht ruhig schlafen kann. Ganz offensichtlich hat der einen über den Durst getrunken. Meiner Mutter habe ich eine kurze Nachricht geschickt und Tyler einen winzigen, schadenfrohen Gedanken: Du kriegst mich nicht, nicht heute Nacht.
Ich bin sechzehn. Ich bin schon groß und in einigen Dingen stärker, als ich mir selbst eingestehe. Wenn ich will, kann ich kämpfen. Ich habe schon Dinge gesehen, die niemand kennt. Weil Geheimnisse Schnittwunden hinterlassen. Ich bin unschuldig. Genau deshalb. Vielleicht bin ich unsicher, doch ich bin nicht dumm.
Aber ich bin nicht bereit, allein irgendwo zu übernachten. Worauf zur Hölle habe ich mich da nur eingelassen!
Suzan bemerkt meine Gedankengänge nicht. Wie denn bitte? Ich kann nichts besser, als mich verstecken und abblocken. Und auf Hochhäusern sitzen, ohne zu wissen, auf welchem Weg ich wieder unten ankomme. Wo soll ich mich diese Nacht nur verstecken? Die Wahrheit einschließen? Ich weiß es nicht. Immerhin habe ich wenigstens frei, wenn ich schon nicht frei sein kann.
»Hellie?«, fragt Suzan. »Alles gut?« Verwirrt nicke ich nur. Wie kommt sie darauf, dass etwas nicht stimmen könnte? In nächsten Moment begreife ich, dass ich unvermittelt vor der Haustür stehengeblieben bin und mich nicht mehr von der Stelle bewege.
»Entschuldige. Ich war in Gedanken.« Sie schließt die Tür hinter uns ab. Mein Herz schlägt bis zum Hals.
»Du musst doch jetzt gar nicht fliehen.«, denke ich. »Du bist doch in Sicherheit.«
»Komm erst mal ins Wohnzimmer.« Die Wohnung ist klein aber fein. Das eine Fensterbrett steht voller weißer Orchideen, die allesamt um die Wette blühen. Als Suzan meinen skeptischen Blick bemerkt, lacht sie laut auf.
»Ich züchte sie. Ja, schon klar, ich bin ein Freak.« Sie wirft ihre kleine Persönlichkeit auf das große, cremefarbene Sofa. »Mensch, Hellie! Setz dich!«
Und wieder bleibt mir nichts anderes übrig, als mich bei ihr zu entschuldigen.
»Ich mache das nicht oft.« Wir lachen. Über meine unbeholfene Art. Suzan tut mir gut, das merke ich. Ich will ich selbst sein. Wo ist der Schlüssel zu meiner Seele? Warum ist die Tasche so groß, in der ich ihn versenkt habe. Oder der See im Park? Oder war es der Pazifische Ozean? Als Suzie aufsteht und mir Schlafsachen sucht, kommt für einen Augenblick Panik in mir auf. Wegen eines Gedankens an die Zeichnungen auf meinen Unterarmen, auf den Beinen. Aber bevor ich etwas sagen kann, ist das Oberteil, das sie mir reicht, langärmlich und alles ist in Ordnung. Alles ist in Ordnung, auch wenn eigentlich nichts gut ist.
Wirklich lange unterhalten wir uns schließlich aber doch nicht mehr. Es ist inzwischen auch gleich fünf Uhr morgens. Und als ich dann im Bett liege, schlafe ich sofort. Das hätte ich niemals gedacht, dass gerade ich es schaffe, in einer fremden Wohnung zu entspannen. Aber kaum habe ich die Decke bis zum Kinn gezogen, fallen mir die Augen zu, und ich kann es zulassen. Ich bin weg von zu Hause. In diesem Moment gibt es keinen sichereren Ort für mich auf dieser Welt.
Ich schlafe lange, habe eine Menge nachzuholen. Als ich aufwache und auf mein Handy schaue, ist es fast fünfzehn Uhr. Zehn Stunden sind verstrichen und es geht mir gut. Ich bin fit, bin bereit für den Tag, der fast schon wieder zu Ende ist. Ich habe das erste Mal nichts geträumt. Es war eine lange, friedliche Nacht ohne Hammer, Tyler und Angst. Ohne ständiges Aufwachen oder Wachliegen. Ich bin erholt. Ich bin ich selbst. Genau so lange, bis ich meine Nachrichten lese.
____2____
Nein, es geht mir nicht gut, ich bin nicht erholt, muss so schnell es geht von hier verschwinden. Was soll Suzan denn von mir denken, wenn sie mich so sieht? Beinahe mechanisch und von dem Gedanken getrieben, meine neu gewonnene Freundin nicht augenblicklich wieder zu vergraulen, ziehe ich mein Kleid wieder an, meine Jacke darüber, mache das Bett ganz säuberlich und lege Suzies Sachen sorgfältig zusammen. Ich kippe das Fenster an, damit meine verbrauchte Luft und somit auch der Rest von mir aus diesem Zimmer verschwinden. Dann schleiche ich in den Flur, schnappe meine Schuhe, schließe die Tür so leise es geht hinter mir und laufe einfach los. Ich fliehe. Aus der Sicherheit zurück in die Abhängigkeit. Ich bin eine Antilope, habe vergessen, mit offenen Augen zu schlafen, weil das auf Dauer einfach zu viel Kraft kostet. Weil das auf Dauer kein Leben ist. Niemand schafft es, so etwas ewig zu ertragen.
Ich flüchte zu Oma.
Die Kornblumen welken, ich werfe sie einfach in den nächstbesten Busch.
»Oma ...«, fange ich an – zittrig, hilflos. »Verdammt, Oma!« Ich lege mich ins Gras, es ist kalt. Mir ist kalt. Als hätte man mich erschlagen, bewege ich mich nicht und starre gebannt den schwarzen Grabstein an, während ich aufgebe, stark zu sein. Innerlich versuche ich verzweifelt, die rostigen Gitterstäbe meines Gefängnisses auseinanderzubiegen. Meine Gedanken trommeln mit Fäusten auf den blechernen Boden dieses Käfigs, hinterlassen jedoch noch nicht einmal Dellen. Wann hört das auf? Wann gibt er mich endlich frei?
»Oma, hilf mir!«, flüstere ich dann. »Oma, warum kann ich nicht einfach mal einen schönen Abend haben?« Ich zittere am ganzen Körper, bin jedoch nicht in der Lage, aufzustehen. Gelähmt, ohnmächtig. Aber ich bin nicht bewusstlos.
Wir sind eine Familie, Tyler und ich. Wenn ich ihn verlasse, bringe ich ihn damit um. Das hat er mir mehrmals ganz genau so gesagt und mit der Zeit glaubt man sogar daran. So gern ich mich einfach umdrehen und aus dieser Welt verschwinden möchte, so sehr rüttelt die Verantwortung an mir. Ich bleibe.
Ich