Das Grab der Lüge. Ben Worthmann

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Das Grab der Lüge - Ben Worthmann

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Ohr auf das, was Chefredakteur Weidenfeld ihm mitzuteilen hatte. Mit seinen Gedanken war er ganz woanders. Normalerweise kam er mit Weidenfeld gut zurecht. Aber an diesem Tag ging ihm der übergewichtige Mann mit dem graumelierten vollen Haar, der ständig auf seinem Brillenbügel kaute, schlichtweg auf die Nerven. Was schwadronierte er denn da nur! Wie lange er, Philipp Kamphausen, jetzt bei der Zeitung sei, als geschätzter Mitarbeiter, beliebter Kollege und wichtige Führungskraft, beinahe fünf Jahre, eine lange Zeit in solch bekanntlich immer unsicher werdenden Zeiten, in denen sich vieles leider oft sehr rasch ändere, quasi über Nacht, wegen der fortschreitenden Digitalisierung, die den Printmedien immer mehr zu schaffen mache, und die Gesetze des Marktes seien nun mal so, wie sie seien, die Großen fräßen die weniger Großen, sodass das Gute nicht immer Bestand habe.

      „Entschuldige mal“, ging Philipp dazwischen. „Weshalb erzählst du mir das eigentlich alles? Hast du mich deswegen extra herkommen lassen?“

      Weidenfeld stockte nur kurz und redete ungerührt weiter. Er selbst stehe unter gewissen Sachzwängen, wisse, ehrlich gesagt, momentan nicht einmal, wie es mit ihm selbst weitergehe. Jedenfalls werde es das Feuilleton und vermutlich überhaupt das Blatt in der bisherigen Form nicht mehr geben. Und da er wisse, wie sehr Philipps Herz an diesem klassischen journalistischen Format hänge und wie wenig ihm daher die Umstellung im Zuge der Übernahme zuzumuten sei - „unter Kultur verstehen die nur noch Buntes, Vermischtes, Human Touch, Promi-News, dieses Lifestyle-Zeugs, na du weißt schon“ - habe man sich entschlossen, ihm die Möglichkeit zu eröffnen, sich selbst um neue persönliche Perspektiven und Optionen zu kümmern.

      „Philipp, wie gesagt, niemand bedauert das so sehr wie ich. Aber ich meine, du bist ja noch ein junger Mann, dreiundvierzig ist schließlich kein Alter. Sieh mich an, ich gehe auf die sechzig zu. Und natürlich bekommst du eine Abfindung. Die Personalabteilung wird wegen dieses ganzen bürokratischen Krams noch auf dich zukommen.“

      So also läuft das heutzutage, wenn du plötzlich seinen Job los wirst, schoss es ihm durch den Kopf. Ihm war, als würden seine Gedanken irgendwo außerhalb seines eigenen Hirns gedacht. Was war denn dies nur für ein schrecklicher Tag! Als wäre die zutiefst beunruhigende Sache mit Anna nicht schon schlimm genug. Philipp war sonst so leicht nicht aus der Ruhe zu bringen. „Ein bisschen Phlegma ist ja ganz angenehm, aber du übertreibst es damit gelegentlich“, hatte Anna schon mal etwas spöttisch konstatiert. Aber jetzt vermengten sich seine verschiedenen Empfindungen plötzlich zu einer ihm selbst bis dahin unbekannten explosiven Mischung.

      Er sprang auf, stieß seinen Stuhl so heftig gegen den Schreibtisch, dass Weidenfeld zusammenzuckte und zischte ihn an: „Du schmeißt mich also raus, ja? Warum sagst du das nicht einfach und klaust mir meine Zeit?“

      „Philipp, bitte, beruhige dich, es tut mir wirklich leid, aber ich stehe nun mal unter gewissen Sachzwängen.“

      „Ach ja? Und das ist dir gerade eben heute Morgen eingefallen? Wie stillos ist das denn!“

      „Bitte, nein, ja“, stotterte Weidenfeld und wurde rot, „irgendwie ist das alles ein bisschen unglücklich gelaufen. Du bist übrigens nicht der Einzige, falls dich das tröstet.“

      „Na toll, Ihr schmeißt die Leute gleich reihenweise raus. Das ist ja sehr beruhigend. Kann ich jetzt gehen? Ich hole kurz meine Sachen aus dem Büro, dann bin ich weg.“

      „Mein Gott, was ist denn mit dir los, so kenne ich dich ja gar nicht“, sagte Weidenfeld musterte ihn mit besorgtem Blick. „Zunächst mal bist du nur freigestellt, dein Gehalt läuft drei Monate weiter. Und selbstverständlich bekommst du eine Abfindung. Glaub mir, es ist besser so für dich, du hättest dir hier sonst nur die Nerven ruiniert. So kannst du dich jetzt in aller Ruhe nach was Neuem umsehen.“

      Der Chefredakteur des „Morgenkurier“ stieß einen Seufzer aus, stemmte sich aus seinem Sessel hoch und streckte ihm die Hand hin. Philipp wandte sich wortlos ab, eilte zur Tür und knallte sie hinter sich zu.

      Als er zu Hause sein Rad abstellte, fuhr gerade ein dunkelgrauer Wagen vor. Ein älterer Mann und eine Frau stiegen aus und fragten ihn, ob hier ein Philipp Kamphausen wohne. Ihm wurde flau, als sie ihre Dienstausweise hervorholten und ihn baten, mit ihm hinaufkommen zu dürfen.

      4.

      Fragen, Fragen, Fragen. Einige dröhnten ihm in den Ohren nach, obwohl sie ruhig und höflich ausgesprochen worden waren. Andere bohrten sich wie mit Widerhaken in seinen Schädel. Doch letztlich lief es immer wieder auf nur eine einzige Frage hinaus: Warum?

      Warum hatte Anna Bertram beschlossen, ihrem Leben ein Ende zu setzen? Ein Leben, das eben erst dabei gewesen war, richtig zu beginnen? Das Leben einer jungen, attraktiven Frau am Beginn einer vielversprechenden Karriere als Psychotherapeutin, in einer harmonischen Beziehung lebend und ohne erkennbare Probleme? Warum war sie mitten in der Nacht aus dem Bett gestiegen, war in ein entlegenes Parkhaus in einem Vorort gefahren, hatte dort einen von der Videoüberwachung nicht erfassten Winkel aufgesucht und dann mit einem Gummischlauch die Abgase vom Auspuff in den Innenraum des Wagens geleitet?

      Die beiden Polizeibeamten, die ihre Fragen an ihn, den Lebensgefährten der Toten, richteten, gingen behutsam und rücksichtsvoll vor und erklärten ihm, sie täten nur ihre Pflicht; bei derartigen nicht natürlichen Todesfällen seien nun einmal Ermittlungen routinemäßig vorgeschrieben, schon um jedes Fremdverschulden ausschließen zu können. Eine reine Formalie. Die Situation selbst ließ sich vergleichsweise leicht und letztlich auch plausibel rekonstruieren. Nein, er hatte nichts davon mitbekommen, wie sie die Wohnung verließ, da sein Schlaf fest und sie immer darauf bedacht gewesen war, ihn nicht zu wecken, wenn sie vor ihm aufstand. Die Beamten sahen keinen Grund, seine Angaben anzuzweifeln, zumal die Kamerabilder zeigten, dass sie allein im Wagen gesessen hatte, als sie morgens um 4.57 Uhr in das Parkhaus fuhr.

      Philipp war mit weichen Knien in seinen Sessel gesackt. Seine Kehle war wie zugeschnürt, das Sprechen fiel ihm schwer, und wenn er sprach, klang ihm die eigene Stimme fremd in den Ohren. Die Beamten zeigten ihm ein Foto, er nickte nur. Ob er die Tote noch sehen wolle? Wegen der Identifizierung sei das nicht unbedingt notwendig, da bereits „jemand von der Familie“ unterwegs sei. Philipp schüttelte den Kopf. Nein, das wollte er nicht, er wusste, dass ihm der Anblick der toten Anna unerträglich gewesen wäre. Er wollte sie lebend in Erinnerung behalten, so viel war ihm trotz des Durcheinanders in seinem Kopf klar.

      Sie fragten ihn, ob sie sich – natürlich nur mit seinem ausdrücklichen Einverständnis – ein wenig in der Wohnung umsehen dürften. Er nickte wieder und murmelte: „Ja, ja, machen nur.“ Es gab keinen Abschiedsbrief oder sonst irgendeinen Hinweis. Auch die Überprüfung ihres Handys hatte nichts erbracht. Sie wollten wissen, ob er denn in letzter Zeit irgendwelche Veränderungen an Anna bemerkt habe, ob sie anders gewesen sei als sonst. Philipp überlegte, ob er ihnen sagen solle, dass sie bisweilen in sich gekehrt gewirkt hatte, behielt es jedoch für sich. Er wusste ja selbst nicht einmal, ob seine Wahrnehmung richtig gewesen war oder ob er gewisse hormonell bedingte Stimmungsschwankungen womöglich überinterpretiert hatte.

      Vor allem wollte er einfach, dass diese schreckliche, dienstlich-bürokratische Fragerei endlich aufhörte. Wenn jemand wirklich berechtigt war, Fragen an ihn zu richten, dann höchstens er selbst, wobei die Kernfrage immer wieder lautete, wie gut er sie eigentlich gekannt hatte. Wie gut konnte man überhaupt einen Menschen kennenlernen, auch wenn man jahrelang – in diesem Fall fast vier Jahre – mit ihm zusammenlebte? Es war ja schon schwierig genug, sich selbst zu kennen.

      Aber sie fragten natürlich weiter, an ihrem Arbeitsplatz, bei ihren Kollegen und den relativ wenigen Freunden und Bekannten, deren Namen er ihnen genannt hatte, mit stets demselben Ergebnis tiefer Ratlosigkeit. Später würde man ihm noch schriftlich mitteilen, dass die Ermittlungen angesichts des eindeutigen

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