Das Grab der Lüge. Ben Worthmann

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Das Grab der Lüge - Ben Worthmann

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      6.

      „Mein Gott, was für eine Geschichte“, sagte Meinecke noch einmal und trank sein Glas aus. „Da kam für Sie ja wirklich alles auf einmal. Es gibt hier so eine Redewendung, dass der Herrgott manchmal den Knüppel in beide Hände nimmt. In Ihrem Fall hat er dann aber prompt ein bisschen Verbandszeug nachgeliefert, wenn man so sagen kann. Auch wenn sich natürlich mit Geld längst nicht alle Wunden heilen lassen.“

      Philipp sagte nichts.

      „Aber ich kann Ihnen das irgendwie nachfühlen“, fuhr Meinecke fort. „Ich stamme ja auch nicht von hier, sondern bin damals aus Hamburg zugezogen, nachdem meine Frau gestorben war. Das ist aber nun schon zwanzig Jahre her. Ich wollte einfach nur weg, alles Frühere hinter mir lassen. Bereut habe ich es nicht. Man kann hier ganz gut leben, Sie werden sehen.“

      Philipp musste daran denken, wie er an jenem Tag vor nunmehr gut drei Monaten mit dem Anwalt telefonierte, kaum, dass Annas Bruder wieder gegangen war. Es war ein kurzer Besuch gewesen, voller Befangenheit auf beiden Seiten. Die Frage des „Warum?“ blieb mehr oder minder unausgesprochen im Raum hängen. Reinhold Bertram war ein großer, kräftiger Mann etwa seines Alters, bei dessen Anblick es ihm schwergefallen war, irgendwelche Ähnlichkeiten mit seiner Schwester zu entdecken, abgesehen von der Partie um die graublauen Augen. Einander zu duzen hatten sie nicht über sich gebracht. Sie hatten überlegt, was mit Annas Sachen geschehen solle. Viel hatte sie ja bei ihrem Einzug ohnehin nicht mitgebracht, vor allem keine eigenen Möbel. Das meiste nahm Reinhold Bertram mit und verstaute es in seinem großen SUV. Philipp behielt nur ein paar Erinnerungsstücke, in erster Linie Bücher.

      „Ach Herr Kamphausen, gut, dass Sie sich melden“, hatte kurz danach Meinecke das Telefongespräch begonnen. „Es war gar nicht so ganz leicht, Sie ausfindig zu machen. Da war richtig ein bisschen Detektivarbeit notwendig. Und etwas Ahnenforschung auch. Sie wissen, um was es geht?“

      Philipp verneinte.

      „Wilhelm Vanderhorst – der Name sagt Ihnen also nichts?“

      „Nein“, erwiderte Philipp, während er krampfhaft überlegte, ob er ihm nicht vielleicht doch etwas sagte.

      „Nun, es handelte sich um einen Vetter Ihrer Großmutter. Und er hat Sie zu seinem Alleinerben bestimmt.“

      „Er hat was? Mich? Aber wieso ...?“

      „Das können wir ihn leider nicht mehr fragen. Der alte Herr ist kürzlich gestorben, mit knapp neunzig Jahren. Er lebte sehr zurückgezogen, wusste aber, wer Sie sind, auch wenn das umgekehrt dann ja wohl nicht der Fall war. Vor allem aber sind Sie offensichtlich der Einzige, der noch als Erbe in Frage kommt. Alle anderen Mitglieder der Familie haben mittlerweile das Zeitliche gesegnet, wie man so schön sagt.“

      „Ja, ich weiß. Das heißt, bis heute wusste ich nicht, dass es da noch diesen Vetter meiner Großmutter gab. Und nun? Was soll ich jetzt tun? Ich meine, um was genau und wie viel geht es denn da eigentlich?“

      „Also, ich sag mal so: Wir reden hier von mehr als einem normalen Sechser im Lotto. Das meiste ist angelegt, sehr gut angelegt, kann ich wohl sagen. Er war schließlich mein Klient. Vor vielen Jahren, als es mit der EDV-Technik richtig losging, hat er irgendeine Erfindung gemacht. Die Firma, bei der er beschäftigt war und ihren Hauptsitz in England hatte, zahlte ihm eine beträchtliche Abfindung für das Patent. Damit zog er sich dann hierher zurück und begann sein Geld sehr klug zu investieren. Er galt als Sonderling, lebte völlig allein und kam wohl auch bis zum Schluss irgendwie zurecht. Doch dann machte das Herz nicht mehr mit. Der Postbote fand ihn vor der Haustür. Eigentlich tragisch, so einsam zu sterben, ich meine, der alte Herr hätte sich doch Personal leisten können. Ich war einer von ganz wenigen hier im Ort, mit denen er sporadischen Kontakt hielt. Es geht, wie gesagt, um richtig viel Geld, größtenteils angelegt, aber auch eine namhafte Summe in bar. Und dann ist da natürlich noch das Haus mit dem Grundstück.“

      „Aha, das Haus“, wiederholte Philipp mechanisch, während sein Gehirn mehr oder minder erfolgreich bemüht war, das Gehörte aufzunehmen und zu verarbeiten.

      „Nun ja, man könnte wohl eher von einem Anwesen sprechen. Ein ordentliches Stück Land plus etwas Wald gehört auch dazu. Am besten sehen Sie sich das Ganze möglichst bald mal an. Ich meine, Sie müssten sowieso herkommen, wegen der förmlichen Testamentseröffnung und all der Formalitäten. Ich hoffe, Sie können sich für ein paar Tage bei Ihrer Zeitung freimachen. Frau und Kinder haben Sie ja wohl nicht, wenn ich das richtig sehe.“

      „Nein, ich lebe allein.“

      „Apropos freimachen: Die Zeiten, in denen Sie arbeiten mussten, um Geld zu verdienen, dürften ohnehin vorbei sein. Als Erbe des Herrn Vanderhorst sind Sie ein äußerst wohlhabender, um nicht zu sagen reicher Mann.“

      Philipp wollte etwas sagen, brachte aber nichts zustande außer einem tiefen Durchatmen.

      „Sie müssen das jetzt erst mal sacken lassen, klar“, sagte der Anwalt. „Geben Sie mir auf jeden Fall Bescheid, sobald Sie absehen können, wann Sie hier sein werden.“

      „Ja, sicher, das werde ich machen.“

      Erst nach dem Auflegen war ihm eingefallen, dass er gar nicht wusste, um welchen Ort es sich eigentlich handelte, obschon der Anwalt das gewiss erwähnt hatte. Er rief noch einmal zurück. Er kannte das Städtchen dem Namen nach. Mit dem Auto würde er gut vier Stunden brauchen.

      Und jetzt saß er hier, an diesem milden Sommerabend, der allmählich in die Nacht überging, vor dem Haus eines Mannes, den er nie gekannt hatte, und trank seinen Whiskey.

      „Sagen Sie, wo liegt mein Großonkel eigentlich begraben?“, fragte er Meinecke, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatte. Er wunderte sich selbst und schämte sich auch ein wenig, dass er es bisher versäumt hatte, sich danach zu erkundigen.

      „Das ist auch so ein Kapitel. Begraben liegt er eigentlich gar nicht, genau genommen. Er wollte verbrannt werden, was ja hier in dieser katholischen Gegend allein schon eher ungewöhnlich, um nicht zu sagen ungehörig genug ist. Aber das war noch nicht alles. Er hatte verfügt, die Asche einfach auf seinem Waldgrundstück zu verstreuen. Wenn Sie also demnächst dort unterwegs sind, sollten Sie darauf achten, dass Sie nicht auf Herrn Vanderhorst treten.“

      Was für ein absurder Gedanke! Als wäre nicht dies alles so schon absurd genug. Wie grundlegend doch der Tod sein Leben verändert hatte – erst durch das schreckliche, unerklärte Ende Annas, dann infolge des für ihn wahrhaft gewinnbringenden Sterbens dieses fernen Verwandten, auf dessen Grund und Boden und obendrein auch noch Asche er jetzt seinen Fuß setzte.

      Als es dunkel geworden war, wechselten Philipp und sein Besucher ins Haus. Es war ein geräumiges anderthalbstöckiges Gebäude mit Schieferdach, Sprossenfenstern und grünen Fensterläden. Das Mauerwerk bestand aus rotem Klinker, das Kellerfundament aus dunkelgrauem Bruchstein und die Giebelfront aus Fachwerk. All das harmonierte erstaunlicherweise, obschon es ein ziemlich eigenwilliger, teils verwinkelt anmutender Stil-Mix war – ja, es gab dem Haus erst seinen besonderen Charakter. Ganz früher hatte dort der Förster gewohnt, und Wilhelm Vanderhorst hatte es seinerzeit nach eigenen Vorstellungen teilweise umbauen und modernisieren lassen. Einiges von dem alten Interieur hatte er aber auch übernommen. Und da es sich bei den Möbeln, mit denen er es selbst dann weiter eingerichtet hatte, durchweg um handwerklich kunstvolle, teilweise antike Stücke handelte, wirkte alles auf eine etwas anachronistische Weise wertvoll und gediegen.

      Das Erdgeschoss wurde zum einen Teil von einem Raum eingenommen,

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