Das Kestel Psychogramm. Jürgen Ruhr
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Leichtfüßig stieg er die Treppen zum zweiten Obergeschoss hinauf. Mit seinen achtunddreißig Jahren war er noch ziemlich beweglich. Und das, obwohl Tobias niemals Sport trieb. Dafür verzichtete er aber größtenteils darauf, einen Aufzug zu benutzen. Zumindest, wenn es nicht höher als in den dritten Stock hinaufging. Während er seine ein Meter neunundsiebzig über die Stufen bewegte, wanderten seine Gedanken wieder zurück zum vergangenen Wochenende. Lächelnd trat er durch die Glastür mit der Aufschrift ‚Bensmann Immobilien‘, die zu den Büros führte. Sein Chef, Herr Bensmann, hatte in dem Bürogebäude eine komplette Etage gemietet und neben dem Großraumbüro und dem Büro des Chefs befanden sich dort auch eine kleine Teeküche, sowie ein Konferenzraum, den sie auch für Kundengespräche nutzten.
Im Flur kam ihm sein Kollege Walther Warsers mit einem schiefen Grinsen auf dem Gesicht entgegen. Der Zweiundfünfzigjährige hielt in der Hand einen Becher mit Tee, er kam offensichtlich gerade aus der Küche. Tobias konnte den Mann nicht leiden, er fand den kaum ein Meter siebenundsechzig großen Mann einfach nur ‚schleimig‘. Warsers befasste sich ausschließlich mit der Vermittlung von Mietwohnungen und, ehrlich gesagt, blickte Tobias nicht nur im physischen Sinn auf den Mann herunter. Schließlich oblag ihm selbst die Vermittlung von Eigentumswohnungen. Mehr Gehalt bekam er deshalb aber auch nicht.
„Morgen Tobbi“, grinste ihn der Kleine jetzt auch an. „Du sollst zum Chef kommen. Sofort.“
Tobias hasste diese Kurzform seines Namens und er hatte dem Älteren schon oft erklärt, dass er nicht ‚Tobbi‘ genannt werden wollte. Der ignorierte das aber und nannte ihn weiter so. ‚Eines Tages breche ich dem Kerl die Nase‘, dachte Tobias und nickte lustlos: „Aha. Worum geht’s denn?“
„Keine Ahnung. Aber es ist nicht meine Schuld, das musst du mir glauben!“
„Was ist nicht deine Schuld?“, wollte Tobias wissen, aber sein Kollege verschwand schon im Großraumbüro. Achselzuckend wandte er sich dem Zimmer des Chefs zu.
„Kestel, kommen sie herein und schließen sie die Tür hinter sich“, begrüßte ihn Bensmann, der hinter seinem Schreibtisch saß und in einem Dossier blätterte. Wilhelm Bensmann zählte achtundfünfzig Jahre, seine Haare und der gepflegte Schnurrbart waren schlohweiß. In seinem feinen Maßanzug wirkte der Mann äußerst seriös.
Tobias war froh, heute ebenfalls einen Anzug zu tragen. Sein Chef legte Wert auf entsprechende Kleidung, doch Tobias bevorzugte eigentlich legere Hosen und vielleicht auch ein Jackett dazu. Den überholten Kleidervorschriften seines Chefs konnte er nichts abgewinnen.
„Setzen sie sich“, forderte Bensmann ihn auf und wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Wie geht es ihnen, Kestel?“
„Ausgezeichnet, Herr Bensmann, ausgezeichnet.“ Tobias konnte mit der Gesprächseinleitung seines Chefs nicht viel anfangen. Er spürte nur, dass nun wenig Gutes folgen würde.
„Nun, wie lange sind sie jetzt bei uns? Fünfzehn Jahre?“
Tobias nickte: „Fünfzehn Jahre, das ist richtig, Herr Bensmann.“
Bensmann sah ihn durchdringend an: „Nun, ich will es kurz machen: Ihre Bilanz ist in den letzten Jahren immer schlechter geworden, die Verkaufsvermittlungen stagnieren. Und das in einer Zeit, in der Eigentumswohnungen weggehen wie geschnitten Brot. Was ist mit der Wohnung in der Lothringer Straße? Wie ich festgestellt habe, versuchen sie seit fast einem Jahr das Objekt an dem Mann zu bringen. Erfolglos!“
Tobias rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. Die Wohnung war sein wunder Punkt. „Seit neun Monaten“, korrigierte er lahm. „Der Eigentümer verlangt einfach zu viel dafür und ist nicht bereit, von seinen Preisvorstellungen herunterzugehen. Selbst in diesen Zeiten ist es schwer, überteuerte Wohnungen zu verkaufen.“
Bensmann nickte: „Ich habe mit dem Eigentümer gesprochen. Er hat wirklich eine überzogene Preisvorstellung. Leider aber äußerte er auch, dass er mit ihren Leistungen nicht zufrieden ist. Er vertritt die Meinung, dass sie ihm die falsche Klientel zuführen. Nun, langer Rede, kurzer Sinn: Sie bekommen ein neues Aufgabengebiet. Ab sofort übernehmen sie die Wohnungsvermittlung von Herrn Warsers. Im Gegenzug wird er die Eigentumswohnungen übernehmen. Sie, Herr Kestel beginnen heute Nachmittag um sechzehn Uhr mit einer zweieinhalb Zimmer Wohnung in Ehrenfeld.“
Bensmann machte eine kurze Pause und schob Tobias die Akte hin, in der er gerade noch geblättert hatte. „Machen sie sich mit den Daten vertraut. Es werden ungefähr zwanzig Interessenten zur Besichtigung kommen, vielleicht auch ein paar mehr. Wer die Wohnung mieten möchte, soll einen Bewerbungsbogen ausfüllen. Erklären sie den Leuten, dass alle Angaben freiwillig sind.“
Bensmann lachte leise, dann fuhr er fort: „Natürlich sortieren wir die später aus, die mit ihren Daten zu sparsam umgehen. Das Ganze dürfte ein Kinderspiel sein, denn Wohnungen dieser Größe in der Lage sind begehrt. Sie nehmen dann eine Vorauswahl vor, wobei Studenten, Alleinerziehende oder Paare mit Kindern nicht erwünscht sind. Auch gleichgeschlechtliche ‚Lebensgemeinschaften‘ werden vom Vermieter abgelehnt. Und natürlich keine Hartz IV Kameraden. Was dann übrig bleibt, legen sie mir morgen vor. Insgesamt also keine allzu schwere Aufgabe, die sie spielend meistern dürften.“
Bensmann blickte Tobias Kestel lächelnd an: „Sehen sie es als Chance. Alles klar? Falls sie noch Fragen haben sollten, wenden sie sich an ihren Kollegen Warsers, der verfügt ja über eine Menge Erfahrung in solchen Dingen. Und falls Herr Warsers Fragen bezüglich der Vermittlung von Eigentumswohnungen hat, so erwarte ich, dass sie ihn vorbehaltlos in jeder Hinsicht unterstützen. Haben wir uns verstanden?“
Tobias nickte. Die Neuverteilung der Aufgaben kam einer Degradierung gleich. Andererseits konnte er aber froh sein, nicht direkt gefeuert worden zu sein.
Die Frage nach einer Gehaltserhöhung schluckte er herunter. Jetzt war sicher nicht der rechte Zeitpunkt dazu ...
2. Vor 35 Jahren
„Wenn du das jetzt nicht aufisst, dann hole ich Vater!“ Seine Mutter klang wirklich böse. Mit in die Hüften gestemmten Fäusten stand sie vor ihm. Tobias kannte diese Geste und wusste nur zu gut, was jetzt folgen würde. Es war ja nicht das erste Mal. „Mach doch nicht immer so ein Theater, Tobbi. Du isst das jetzt!“
Tobias blickte auf seinen Teller. Der Spinat, das Rührei und die Kartoffeln waren längst kalt. Er hasste Spinat und Ei mochte er auch nicht sonderlich gerne. Das letzte Mal, als er seinen Teller leeressen musste, hatte er sich auf den Küchenboden übergeben. Mit einem Wischlappen und einem Eimer Wasser musste er anschließend das stinkende Zeug aufwischen. Aber damit nicht genug. Als sein Vater in so auf dem Boden kniend vorfand, mit Tränen in den Augen, stieß er zornig hervor: „Du undankbare Brut!“ und drückte seinen Kopf tief in die schleimige Masse. Tobias bekam keine Luft mehr, zappelte und versuchte zu schreien. Doch sein Vater hielt seinen Kopf so fest, als wäre der in einem Schraubstock eingespannt. Als sich der Griff schließlich lockerte, befand sich ein Teil der Matsche aus Kartoffel, Ei und Spinat in seiner Nase. Tobias würgte erneut und leerte auch den letzten Rest seines Magens.
„Iss!“, befahl seine Mutter wieder mit zorniger Stimme. Tobias rührte sich nicht.
Klatschend traf die flache Hand sein Gesicht. Tobias spürte das Brennen