Das Kestel Psychogramm. Jürgen Ruhr
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Sein Vater prügelte auf ihn ein, bis der Zorn etwas nachließ. Doch davon merkte Tobias nichts mehr, eine erlösende Ohnmacht hatte ihn von seiner Pein befreit.
Am nächsten Tag teilte ihm seine Mutter lapidar mit, dass er wieder Stubenarrest habe. Im Kindergarten war er auch schon entschuldigt worden. Tobias rätselte, welchen Fehler er begangen haben konnte. Warum freuten sich seine Eltern, wenn seine Schwester ihr großes Geschäft machte, bei ihm dagegen reagierten sie mit Strafe und Prügel? Der Dreijährige verstand die Welt nicht. Er machte doch nur das, was seine Schwester auch getan hatte. Und die war dafür gelobt worden!
Tobias brannten Rücken und Po und als er sich mühsam aus dem Bett quälte, entdeckte er das Blut auf den Laken. Er suchte Trost und sein Blick fiel auf den kleinen Goldhamster, der in einer Ecke seines Käfigs schlief. Nachdem Tobias wieder Nahrung von seinen Eltern bekommen hatte, fütterte er auch den kleinen Friedrich wieder, was der ihm damit dankte, dass er sein kleines, weiches Köpfchen an seiner Hand rieb.
Tobias ließ sich auf die Knie nieder, was für ihn weniger Schmerzen in Rücken und Po bedeutete. Dann kroch er zu dem Käfig hinüber. Friedrich bewegte sich im Schlaf, seine kleinen Füßchen zuckten. In der Mitte des Körpers hob und senkte sich das samtweiche Fell mit jedem Atemzug. Tobias öffnete den Käfig und streckte die Hand nach dem Tier aus. Als er es ergriff, erwachte Friedrich und blickte ihn träge und vertrauensvoll an.
Er hielt den kleinen Hamster in der linken Hand und ging mit ihm zu seinem Schreibtisch herüber. Sein Griff war fest und jetzt begann das Tier zu zappeln. Der Junge griff nach der Bastelschere und betrachtete sie einen Augenblick. Ein wohliges Gefühl bemächtigte sich seiner und ohne die Schmerzen zu spüren, ließ er sich auf seinem Schreibtischstuhl nieder. Gedankenverloren betrachtete er den Goldhamster, das winzige Köpfchen und die Knopfaugen. Jetzt hielt er den kleinen Körper mit eiserner Hand fest und ein entrüstetes Fiepen erklang, während der kleine Kerl versuchte, sich aus dem unerbittlichen Griff zu befreien.
Tobias lächelte. So gut hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt. Alle Schmerzen, Schmach und Demütigungen waren vergessen. Es gab nur ihn und dieses kleine Wesen, über das er jetzt alle Macht der Welt ausüben konnte.
Immer noch lächelnd schnitt Tobias mit der Bastelschere dem gequält quiekenden Hamster die Beine ab. Es bedeutete einige Mühe, doch je länger er dem Leiden des Tieres zusah, desto besser fühlte er sich. Schließlich stach er mit der stumpfen Schere in beide Augen. Das Tier war längst verstummt und plötzlich endete auch das heftige Pochen unter dem weichen Fell. Tobias hielt das tote Tier in der Hand, sah das Blut, das über seine Finger floss und fühlte zum ersten Mal seit langer Zeit wieder eine Zufriedenheit, die er schon für immer meinte verloren zu haben.
Nachdem er den Kadaver in eine Tüte gepackt und unauffällig im Mülleimer entsorgt hatte, legte er sich ins Bett und schlief mit einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht ein.
3. Die Wohnungsbesichtigung
Tobias Kestel blickte auf seine teure Armbanduhr und stellte befriedigt fest, dass ihm bis zu dem Besichtigungstermin noch etwas Zeit blieb.
Sein Kollege Walther Warsers, der jetzt seinen Job übernommen hatte, kam alle paar Minuten mit Fragen zu ihm. Anfänglich entschuldigte Warsers sich noch dafür, dass Bensmann von ihnen diesen Jobtausch verlangt hatte, doch als Tobias ihm klarmachte, dass es schon gut sei und er sich seine Entschuldigungen in den Arsch schieben solle, schwieg Warsers. Sofern er wegen seiner unsinnigen Fragen überhaupt noch zu ihm kam.
Tobias benötigte keine Erklärungen zu seinen neuen Aufgaben. Die Jobvorgaben waren eindeutig und eine Wohnung vermieten konnte jeder Praktikant. Die hohe Nachfrage nach Wohnraum erforderte lediglich ein Aussortieren derer, die für die Anmietung auf keinen Fall in Frage kämen. Die endgültige Entscheidung fällte später sowieso der Eigentümer. Verdammt, mit diesem Wechsel hatte Bensmann in wirklich degradiert. Aber der würde sich noch umschauen, denn Walther Warsers war mit Sicherheit nicht der Richtige für den Verkauf von Eigentumswohnungen.
Tobias suchte in seinen Jackentaschen nach der kleinen Dose mit den Pillen. Normalerweise benötigte er seine Dosis nach solch einem Wochenende erst wieder am Mittwoch, frühestens am Dienstag, aber nach diesem Rückschlag fühlte er sich einfach nur mies.
Als er die kleine Schachtel mit der Aufschrift ‚Orap‘ schließlich in seiner linken Tasche fand, atmete er erleichtert auf. Sein Hausarzt verschrieb ihm die Tabletten regelmäßig, nachdem sie ein längeres Gespräch geführt hatten. Der Arzt erwähnte dabei auch etwas von Psychotherapie und wies wiederholt auf die Dosierung hin, doch solche Dinge interessierten Tobias nicht. Die Pillen halfen und damit Schluss. Leider war die Wirkung begrenzt, doch das brauchte ja niemand zu wissen ... Wie immer schluckte er die kleine weiße Tablette ohne Wasser herunter und wartete sehnsüchtig auf die Wirkung. Plötzlich bemerkte er aus den Augenwinkeln jemanden neben sich stehen.
„Orap“, meinte Walther Warsers, der sich wohl lautlos angeschlichen hatte. „Ist das nicht ein Psychopharmakon?“
„Geht dich das was an? Kümmere dich gefälligst um deinen eigenen Kram.“ Tobias brauchte die Gegenwart des schleimigen Warsers jetzt weniger denn je.
„Schon gut, schon gut. Entschuldige. Ist ja deine eigene Angelegenheit.“
„Du sagst es!“
„Ich wollte ja auch nur fragen, ob es bei der Wohnung in der Lothringer Straße einen Spielraum für den Kaufpreis gibt.“
Tobias stöhnte auf: „Verdammt, Warsers, hast du das denn immer noch nicht kapiert? Der Verkäufer gibt uns keinen Spielraum und lässt auch bezüglich des Preises nicht mit sich reden. Du kannst es ja versuchen. Nur für das, was er verlangt, kriegst du die Bude nie verkauft!“
„Abwarten, abwarten“, murmelte Tobias Kollege. „Man muss nur den richtigen Käufer finden. Irgendeinen Dummen gibt es immer. Jeden Morgen stehen Dutzende davon auf!“
„Na dann viel Glück. Und jetzt lass mich in Ruhe, ich muss sowieso gleich los.“
Für die knapp acht Kilometer bis zu der Mietwohnung in Köln Ehrenfeld brauchte Tobias Kestel mehr als fünfundvierzig Minuten. Hohes Verkehrsaufkommen und ein Auffahrunfall mit leichtem Blechschaden sorgten immer wieder für Staus. Der Regen ließ einfach nicht nach und fiel aus dicken, dunklen Wolken als gäbe es eine neue Sintflut. Tobias verfluchte den Verkehr, die späte Uhrzeit der Besichtigung, die zweifellos den Berufstätigen gewidmet war, und seinen Chef, der ihm das hier eingebrockt hatte. Es kam selten vor, dass er sich schon am Montag das Wochenende herbeisehnte, aber heute war so ein Tag. Wütend drückte er auf die Hupe und erntete neben desinteressiertem Achselzucken auch erhobene Mittelfinger. Schneller voran ging es deswegen noch lange nicht.
Die Wohnung erreichte er schließlich mit zwanzig Minuten Verspätung und nach einem längeren Fußmarsch. Dafür waren seine Schuhe und Hosenbeine klatschnass. Tobias überlegte, ob er sich in den nächsten Tagen von seinem Arzt mit einer Erkältung krankschreiben lassen sollte. Ein paar Tage Ruhe würden ihm guttun.
Vor dem Haus wartete schon eine lange Schlange von Mietinteressenten, von denen er einige zur Seite schieben musste, um überhaupt an die Eingangstüre heranzukommen. Ein junger Mann begrüßte ihn mit den Worten „Sie sind aber verdammt spät dran, wo bleiben sie denn, Mann?“ und disqualifizierte sich damit im Vorfeld schon als potenzieller Mieter. Tobias merkte sich das Gesicht, sagte aber nichts. Die Meute