Das Kestel Psychogramm. Jürgen Ruhr
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Schließlich wurde Tobias genötigt, seine Schultüte vorzuführen. Das demolierte Aussehen ließ seine Verwandten grinsen, doch sie nickten ernst mit dem Kopf und meinten: „Sehr schön Tobbi, das ist aber eine schöne Schultüte.“ Dann wandten sie sich wieder Kaffee und Kuchen zu und sprachen über Krankheiten, das neue Auto von Opa und der Arbeit des Onkels. Stefanie saß auf Opas Schoß und spielte mit dessen Vollbart, was ihm hin und wieder ein Lachen entlockte.
Da Tobias keine Beachtung mehr fand, schlüpfte er durch die Hintertür in den Garten. Die Sonne brannte heiß vom Himmel und das Wasser im Planschbecken glitzerte verführerisch. Doch er traute sich nicht, seine Badehose anzuziehen und hineinzusteigen. Einerseits musste er zuvor Stefanie um Erlaubnis fragen und andererseits hatte ihm seine Mutter befohlen, den Anzug den ganzen Tag anzubehalten. „Der festliche Rahmen, mein Junge. Der festliche Rahmen!“, hatte sie ihm erklärt und Tobias verstand kein Wort. Spielte es wirklich so eine große Rolle, dass er in diesem dämlichen Anzug herumlief, noch dazu, da es so heiß war? Keiner der Verwandten trug ähnlich festliche Kleidung. Selbst seine Mutter hatte sich nach ihrer Rückkehr etwas Bequemes angezogen. Nur Stefanie trug stolz ihr neues Kleid, sah sie darin doch wie eine kleine Prinzessin aus.
Hinter dem Garten des Hauses befand sich ein kleines, verwildertes Grundstück, das bis jetzt noch nicht bebaut worden war. Direkt daran grenzte ein Nachbar, der seinen Garten mit einem Zaun umgeben hatte. Davor wuchsen Bäume und Sträucher und Tobias fand bald heraus, dass es sich in dem dichten Gestrüpp sehr gut spielen ließ. Aus Zweigen und Blättern hatte er sich eine kleine Höhle gebaut, in die er sich so oft es ging zurückzog. Auch jetzt zwängte er sich durch die Äste, kroch auf dem Boden durch einen niedrigen Durchlass und saß schließlich geschützt und abgeschirmt zwischen all dem Grün. Beim Hineinkriechen hatte er sich einen Riss im Ärmel seiner Jacke zugezogen und er konnte sich unschwer ausmalen, was das bedeutete: Prügel vom Vater mit dem Ledergürtel.
Tobias saß auf dem Boden und ließ seinen Tränen freien Lauf. Das sollte der großartige Tag seiner Einschulung gewesen sein? Sein großartiger Tag? Die Schultüte und vor allem der Inhalt waren ein einziger Reinfall gewesen. Die zerkrümelte Schokolade würde Stefanie nicht haben wollen und damit blieb ihm der Weg ins Planschbecken versperrt. Die Großeltern hatten es gut gemeint und ihm einen Briefumschlag mit Geld geschenkt. Doch das Geld nahm seine Mutter direkt an sich und würde es in seine Spardose stecken. Im Grunde blieb ihm von diesem Tag eigentlich nichts. Tobias rutschte ein wenig zur Seite und spürte das Messer in seiner Hosentasche. Dies war das einzig sinnvolle Geschenk! Allerdings wusste er im Grunde genommen nichts damit anzufangen. Gedankenverloren betrachtete er das kleine Kreuz. Dann versuchte er das Messer auszuklappen und brach sich prompt den Fingernagel ab. Erst nach mehreren Versuchen gelang es ihm, nach und nach die einzelnen Teile hervorzuholen. ‚Korkenzieher‘? Er betrachtete die kleine Spirale mit der scharfen Spitze. Wofür war das Ding eigentlich gut? Seufzend steckte er das Geschenk in seine Jackentasche.
Seine Familie oder die Verwandten schienen ihn nicht zu vermissen. Keiner suchte nach ihm, niemand rief seinen Namen und Tobias kam sich alleine und verlassen vor. Bestimmt drehte sich wieder einmal alles um seine Schwester, die stets der Mittelpunkt jeder Feier war. Sie war süß, sie war lustig. Jedermann liebte sie. Tobias lauschte, ob nicht vielleicht doch jemand nach ihm rief, doch außer irgendwelcher Musik konnte er nichts vernehmen.
Und doch war da ein Geräusch, das ihn aufhorchen ließ. Ein Rascheln und ein leises Miauen. Der Junge sah sich um und entdeckte plötzlich ein kleines Kätzchen, das durch die Blätter stolperte. Es kam direkt auf ihn zu, sah Tobias aus großen, grünen Augen an und näherte sich ihm noch weiter. Es musste sich um eines der Katzenkinder der Nachbarskatze handeln, das sich hierhin verlaufen hatte und nun nicht mehr zu ihrer Mutter zurückfand.
Das Kätzchen war genauso verloren, wie er selbst!
Tobias blickte auf das kleine Tier mit dem weichen grauen Fell, das jetzt an seinem Knie mit dem Schokoladenfleck schnupperte und dann sein Köpfchen daran rieb. Es miaute leise und es klang ziemlich kläglich. Vorsichtig streichelte er über das weiche Fell und das Kätzchen drückte sich ihm entgegen, als würde es bei ihm Schutz suchen. Tobias nahm es hoch und das kleine Tier schmiegte sich wohlig in seine Hände.
Als der Junge die Katze kurz absetzte, um in seine Jackentasche zu greifen, sah sie ihn vorwurfsvoll an und erneut erklang dieses klägliche Miauen. Bevor sie ihm noch davonlaufen konnte, nahm Tobias das kleine Wesen in die linke Hand. Jetzt hielt er es mit festem Griff und das Tier fing an sich unter seinen Fingern zu winden. Doch es war zu schwach, um ihm zu entkommen. Kleine, noch nicht wirklich gefährliche Krallen, fügten seinem Handgelenk leicht blutende Kratzer zu.
Tobias spürte eine plötzliche Ruhe und Entspanntheit in sich, die er seit Jahren irgendwie vermisst hatte. Beim Betrachten des hilflosen Tieres stellte sich dieses wohlige Gefühl ein und eine leichte Gänsehaut kletterte seinen Rücken hinab. Er genoss diesen Moment, so wie er vorhin die Minuten genossen hatte, als Stefanie ihm beim Auspacken der Schultüte zusehen musste und diese dämliche ‚Kindergartentüte‘ noch nicht besaß. Das Kätzchen wand sich jetzt stärker und miaute kläglich. Tobias hielt es eisern fest, so dass es den Kopf nicht bewegen konnte. Das alles war anstrengend, doch der Junge spürte keinen Schmerz mehr, keine Pein, sondern nur das herrliche Gefühl der Macht, das ihn erfüllte.
Endlich wusste er, wozu der Gegenstand an dem Schweizer Messer gut war und er bohrte den Korkenzieher geschickt in ein Auge des Tieres. Das kreischte jetzt vor Schmerzen so laut es mit ihrem schwachen Stimmchen konnte und Tobias genoss jeden einzelnen Laut. Vergessen war die kitschige Schultüte, vergessen die dumme Lehrerin und vergessen all die Schmach und Demütigung. Es gab nur das Hier und Jetzt und das herrliche Gefühl, das seinen Körper durchströmte. Als die Bewegungen der Katze erlahmten und Blut über seine linke Hand tropfte, bohrte er den Korkenzieher auch in das andere Auge des Kätzchens. Diesmal drückte und drehte er so lange, bis die spitze Spirale bis zum Anschlag im Kopf des Tieres verschwunden war. Das Kätzchen bewegte sich nicht mehr, sondern lag schlaff in seiner Hand. Tobias wechselte zu der Messerklinge und schnitt den Brustkorb des Tieres auf. Und wirklich: Das Herz, das er erkennen konnte, pulsierte noch schwach und erstarb erst, als er es aus dem kleinen Körper schnitt.
Tobias fühle sich großartig.
5. Der Spielplatz
Tobias Kestel saß an seinem Schreibtisch und sortierte die Bewerbungsunterlagen für die Mietwohnung in Köln Ehrenfeld. Er teilte die Bögen in zwei Stapel. Einmal diejenigen, die für eine Anmietung in Frage kämen und einmal die, die die zweite Wahl darstellten und dann in Frage kämen, wenn niemand anderes mehr Interesse zeigen würde. Einen dritten Stapel gab es nicht, denn wer es auf keinen Fall in die Auswahl schaffte, verschwand direkt im Papierhäcksler. So wie der Bogen, auf dem ein dickes Kreuz hinter dem Namen stand. Ein einzelner junger Mann, mit vielleicht wechselnden Bekanntschaften und entsprechenden Feierbedarf, kam auf keinen Fall in Frage. Mochte er auch noch so viel Geld in einen Umschlag stecken. Auch der Bogen des Mannes, der ihn noch vor dem Haus so angeranzt hatte, verschwand im Schredder.
Tobias Hand fuhr einmal mehr zur Innentasche seines Jacketts, in der der Bewerbungsbogen der Mutter mit ihrer Tochter Mia steckte. Die Frau war achtundzwanzig Jahre alt, wie er den Eintragungen entnahm und seit einem Vierteljahr geschieden. Ihre Wohnadresse befand sich in einer Hochhaussiedlung in Köln Lindweiler. Tobias sah sich die Gegend im Computer an und entdeckte den kleinen Spielplatz, den Mia erwähnt hatte, ebenfalls. Wenn die Frau dort wirklich mit ihrem Vater, also