Das Kestel Psychogramm. Jürgen Ruhr
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Tobias Kestel trat hinter dem Busch hervor.
In diesem Moment kam ein alter Mann zwischen mehreren Büschen auf einem kleinen Weg von der anderen Seite auf den Spielplatz. Er bewegte sich zielstrebig auf die blonde Mia zu, sagte etwas und beide lachten. Es musste sich um den Opa handeln, die Kleine war direkt ganz vertraut mit dem Mann. Tobias verschwand leise fluchend wieder hinter seinem Busch und beobachtet, wie Opa und Enkelin Hand in Hand verschwanden.
Auf dem Weg zum Büro schalt sich Tobias für seine Unvorsichtigkeit. Er hatte, noch während er zum Wagen ging, drei seiner kleinen Tabletten geschluckt und allmählich beruhigte sich sein Herzschlag. Wie dumm er doch war! So etwas durfte ihm nicht wieder passieren. Völlig unvorbereitet! Und heute war erst Mittwoch. Bensmann hätte ihm nie und nimmer den morgigen Tag und Freitag frei gegeben. Doch die Gelegenheit war günstig gewesen und irgendwie hätte alles funktioniert. Irgendwie. Wäre nur dieser dämliche Opa nicht dazwischengekommen! Tobias nahm sich vor, seinen Chef zu bitten, ihm Freitag frei zu geben. An dem Tag hatte er sowieso keine Termine.
6. Vor 28 Jahren
Tobias Kestel lag im Bett und hielt die Augen fest geschlossen. Aufgeregtes Stimmengewirr drang aus den unteren Räumen zu ihm hoch. Er hasste diesen Tag, bevor der überhaupt begonnen hatte.
Heute ging seine Schwester zur Erstkommunion. Ein Fest, auf das die gesamte Familie nun schon seit Monaten gespannt wartete. Na ja, fast die gesamte Familie. Denn er, Tobias, wartete keineswegs auf diesen Tag. Und er freute sich auch nicht.
Der ganze Monat April war regnerisch und kalt gewesen. Nur ausgerechnet heute drangen die ersten Strahlen einer frühen Sonne durch sein Fenster und kitzelten ihn an der Nase. Tobias zog sich die Bettdecke über das Gesicht. Vielleicht könnte er einfach so liegenbleiben, sich nicht rühren und vom Rest der Familie vergessen werden.
Im März war er zehn Jahre alt geworden und niemand nahm wirklich Notiz davon. Seine Mutter gratulierte ihm an dem Tag, es war ein Donnerstag und somit ein ganz gewöhnlicher Schultag gewesen, beim Frühstück kurz und überreichte ihm dann recht lieblos sein Geschenk. Seine Schwester erinnerte sich erst daran, ihm zu gratulieren, als sie das Geschenk sah. Als Tobias mittags aus der Schule kam, war von seinem Geburtstag keine Rede mehr und es wurde ein ganz gewöhnlicher Wochentag. Ohne Kuchen, ohne Feier und ohne Gäste. Nachdem er seine Schulaufgaben gemacht hatte, nahm sich Tobias seinen Fußball und ging auf einen nahegelegenen Bolzplatz, um mit einigen Mitschülern zu kicken. Aber er wurde in keine Mannschaft gewählt und schließlich spielte er am Rand des Platzes alleine vor sich hin. Erst als er den kleinen Vogel entdeckte, der nicht mehr so recht fliegen konnte, wurde es doch noch ein entspannter und schöner Nachmittag. Er hatte zuvor noch nie einem lebenden Vogel die Federn ausgerissen ...
Heute aber fand der große Tag seiner Schwester statt, der auch gebührend gefeiert werden sollte. Vor zwei Jahren ging Tobias zu seiner ersten Heiligen Kommunion und es war ein mäßig schöner Tag mit vielen Verwandten gewesen. Doch so einen Aufwand, wie bei seiner Schwester heute, hatten die Eltern nicht betrieben. Das Mittagessen gab es damals zu Hause und die Verwandten erschienen lediglich zum Kaffeetrinken und Kuchenessen. Und um ihn, Tobias, kümmerte sich ja dann auch niemand mehr ...
Heute aber würden sie nach der Kirche alle zusammen in ein piekfeines Restaurant gehen und anschließend mit all den Gästen daheim noch bei Kaffee und Kuchen weiterfeiern. Seine Eltern scheuten keine Kosten und Mühen.
Tobias drehte sich auf den Bauch und zog die Decke noch ein wenig weiter über seinen Kopf, als er seinen Namen hörte. Warum ließen sie ihn nicht einfach in Ruhe?
Die Bettdecke wurde fortgerissen und eine Hand klatschte auf seinen Po. „Verdammt, wirst du endlich aufstehen?“, hörte er seine Mutter brüllen. „Deinetwegen werden wir auf keinen Fall zu spät kommen. Du ziehst dich jetzt sofort an, sonst schicke ich dir den Papa!“
Darauf wollte der Junge es auf keinen Fall ankommen lassen, denn das bedeutete wieder Schläge mit dem Lederriemen. Und dann könnte er den ganzen Tag nicht sitzen vor Schmerzen. Missmutig kletterte er aus dem Bett. An diesem Tag sollte er seinen Anzug anziehen, den einzigen, den er besaß, und er hasste ihn wie die Pest. Mutter hatte den Anzug aus Cord im Spätsommer vergangenen Jahres günstig in einem Second-Hand Laden erstanden. Tobias sollte ihn damals zu der Beerdigung seiner Großmutter tragen. Leider bekamen sie keinen Anzug in blau, sondern lediglich in grün, doch seine Mutter nickte zufrieden, als die Größe stimmte. Inzwischen war Tobias wieder etwas gewachsen und die Hosenbeine, sowie die Ärmel waren zu kurz. Und zuknöpfen ließ sich die Jacke auch nicht mehr. Tobias kam sich in der Kleidung lächerlich und dumm vor.
Er betrat die Küche, als seine Mutter gerade sein Frühstück forträumte. „Tobias, Tobias“, tadelte sie, „jetzt ist es zu spät, noch etwas zu essen. Du musst einfach aufhören so zu trödeln. Vater holt schon den Wagen, er wird in wenigen Minuten hier sein.“
„Wo sind denn alle?“, fragte Tobias und schaute, ob nicht wenigsten noch etwas Obst in der Schale lag. Doch da war nichts mehr. Ob er ein Stück Brot haben könnte?
„Wer alle?“
„Na, Papa und Mia. Und die Gäste.“
Seine Mutter haute mit der flachen Hand auf den Tisch. „Hörst du eigentlich nie zu, wenn man dir etwas sagt? Vater ist den Wagen holen. Mia begleitet ihn. Und dass wir die Verwandten vor der Kirche treffen, haben wir schon vor Tagen erzählt. Bist du eigentlich blöd, Junge?“ Sie wartete keine Antwort ab, sondern eilte in die Diele, um sich einen Mantel überzuziehen. Trotz der Sonne war es noch recht kühl draußen.
Eine Minute später hupte es auf der Straße. „Los jetzt, sonst kommen wir noch zu spät!“ Seine Mutter schob ihn durch die Haustür und verschloss sie sorgfältig.
„Da ist ja unser Langschläfer“, begrüßte ihn sein Vater. „Anschnallen Tobias, los mach schon!“
Stefanie thronte in ihrem weißen Kommunionskleid wie eine kleine Prinzessin auf dem Rücksitz. Stolz hielt sie eine Kerze, auf der ein kleines Bild, sowie ihr Name zu sehen war, in der Hand. Tobias blickte neidisch auf das kunstvoll verzierte Stück und musste daran denken, dass er damals nur eine unscheinbare, weiße Kerze bekommen hatte. Nicht einmal sein Name stand darauf, geschweige denn solch ein schönes Bild, wie es auf der Kerze seiner Schwester zu sehen war.
Ihre Verwandten standen schon im Pulk vor der Kirche. Diesmal waren selbst die Eltern seines Vaters gekommen, die weit entfernt in einer anderen Stadt wohnten. Bei seiner Kommunion konnten sie angeblich aus gesundheitlichen Gründen nicht dabei sein. Dafür fehlte die Oma, die im letzten Jahr gestorben war und der Opa, der Vater seiner Mutter, stand verloren mit dem traurigen Gesicht, das er seit dem Tod seiner Frau trug, neben den anderen. Er blickte zu Boden und beteiligte sich an keinen Gesprächen. Die Tante, Mutters Schwester, stand lachend da, als der Onkel die kleine Mia hochhob, durch die Luft schwenkte und rief: „Da ist ja unser Sonnenschein. Du bist aber groß geworden. Und so hübsch, so hübsch ...“
Mutter lachte: „Lass das Kind runter, du machst sie ja ganz verrückt. Gleich kann sie sich nicht mehr auf die Messe konzentrieren. Ihr solltet euch endlich einmal selbst Kinder anschaffen.“
Der Onkel stellte Stefanie vorsichtig auf den Boden und meinte: „Lieber nicht. Für uns ist der Zug abgefahren. Außerdem weiß man ja nie, was dabei herauskommt.“ Er warf einen Seitenblick