Das Kestel Psychogramm. Jürgen Ruhr
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Читать онлайн книгу Das Kestel Psychogramm - Jürgen Ruhr страница 14
Tobias trat Tränen in die Augen, die er rasch fortwischte. Ihm hatten die Großeltern zu seiner Kommunion nicht einmal eine Karte geschickt.
Stefanie nahm das Buch entgegen, hörte dem Opa aber kaum zu, da sie ununterbrochen mit dem kleinen Hund schmuste. Tobias stellte mit Genugtuung fest, dass sich auf dem weißen Kleid seiner Schwester ein gelber Fleck ausbreitete. Aber außer ihm schien das niemandem aufzufallen.
Endlich wurde das Essen serviert. Ein Kellner wischte die Spur auf, die der Hund beim Hereintragen hinterlassen hatte und Stefanie bekam einen neuen Teller und neues Besteck, da der Hund alles verschmutzt hatte. Während des Essens behielt seine Schwester das Tier auf dem Schoß. Die Geschenke landeten auf dem dafür vorgesehenen Tisch und einige weitere Pakete, die noch nicht geöffnet waren, kamen hinzu.
Das Essen begann mit einer Vorspeise, die aus Baguette, Obst und irgendwelchen roten Scheiben bestand, die Tobias nicht kannte. Dazu gab es kleine Schälchen mit einer weißen Paste. Tobias beobachtete die anderen verstohlen, um zu sehen, wie sie mit dem für ihn unbekannten Essen umgingen. Dann strich er die Paste ebenfalls auf die roten Scheiben, so wie er es bei dem Onkel sah. Die Tante und seine Mutter nahmen etwas auf ihr Brot und aßen die roten Scheiben mit sichtlichem Genuss ohne Pastenaufstrich.
Tobias Magen knurrte und der Junge stopfte sich die Scheiben und das Brot rasch in den Mund. Ein fürchterlich scharfer Geschmack breitete sich in Mund und Rachen aus. Die Scheiben schmeckten merkwürdig nach Fisch und Tobias hätte sie am Liebsten wieder auf den Teller zurückgespuckt. Es war einfach nur ekelhaft. Doch ausspucken kam nicht in Frage, denn dann hätte er sich garantiert den Zorn seiner Eltern zugezogen. Stefanie kaute derweil an irgendwelchem Obst, sie hatte keine so widerlichen roten Scheiben auf ihrem Teller.
„Hervorragender Lachs“, hörte er seinen Onkel sagen. „Eine sehr gute Wahl, Manfred!“
„Danke nicht mir“, erwiderte sein Vater mit vollem Mund. „Das Essen hat Birgit ausgesucht. Du wirst Augen machen, was es als Hauptspeise gibt!“
Tobias versuchte die Scheiben, die sein Onkel ‚Lachs‘ nannte, ohne zu kauen herunterzuschlucken. Sein Mund brannte höllisch und er sehnte sich danach, etwas zu trinken. Doch der Lachs rutschte einfach nicht und plötzlich rebellierte sein hungriger Magen. Tobias erbrach sich würgend auf den Boden.
„Verdammt Junge“, brüllte sein Vater. „Was ist bloß mit dir los? Du benimmst dich wie ein Schwein!“
Alle Augen richteten sich auf den Jungen und die Eltern seines Vaters schüttelten vorwurfsvoll den Kopf. Eine Kellnerin eilte mit einem Eimer Wasser und einem Lappen herbei.
„Das wird er selber aufwischen“, wies sein Vater die Frau an. „Er hat die Sauerei ja schließlich auch verursacht.“ Achselzuckend drückte die Kellnerin Tobias den Lappen in die Hand und stellte den Eimer auf den Boden.
„Los, du wischt das jetzt sofort auf!“ Sein Vater erhob sich drohend von seinem Stuhl.
„Das ist ja ekelhaft“, gab die Oma mit vollem Mund von sich, aß aber ungerührt weiter.
„Ja“, nickte der Opa väterlicherseits, „so ein Kind kann einem den schönsten Tag verderben. Was hat der Junge bloß? Macht der das extra? Früher hätten wir sowas in ein Erziehungsheim gesteckt!“
Während Tobias den Boden aufwischte, liefen ihm die Tränen an den Wangen herunter. Zum Glück sah es niemand und verstohlen wischte er sich über die Augen.
„Ich glaube, du brauchst ein wenig frische Luft, Tobias.“ Sein Vater zeigte auf den Eingang des Restaurants. „Du wartest draußen auf uns, hast du mich verstanden?“
Tobias nickte und schlich mit gesenktem Kopf aus dem Lokal.
Das Restaurant lag ein wenig abseits in der Nähe eines kleinen Wäldchens. Tobias wanderte ziellos über den Parkplatz und folgte schließlich einem schmalen Weg in den Wald. Der Hunger brannte in seinem Magen und die Ungerechtigkeit der Behandlung durch seine Eltern pochte in seinem Kopf. Wut, Resignation und Angst vor dem Ledergürtel des Vaters, den er mit Sicherheit zu Hause zu spüren bekommen würde, tobten in seinem Körper und unterdrückten jeden klaren Gedanken. Er müsste einfach weglaufen. Irgendwohin. Oder besser noch wäre es, wenn er tot wäre. Niemand würde ihn vermissen. Tobias spürte das Schweizer Taschenmesser. Ob er sich damit das Herz herausschneiden konnte? Aller Angst und allem Ärger ein Ende bereiten?
Der Junge folgte dem schmalen Pfad und stellte sich vor, einfach hier im Wald zu bleiben. Hier zu leben, sich eine Höhle bauen, wie sie bis vor kurzem noch auf dem verwilderten Grundstück hinter ihrem Haus gestanden hatte. Doch dann war dort ein schmuckes kleines Haus gebaut worden und ein hoher Zaun grenzte das Grundstück gegen die Nachbarn ab.
Plötzlich endete der Wald und er stand vor einer großen Wiese, die ein hölzerner Weidezaun umgab. Der schmale Weg führte jetzt zwischen Wald und Wiese in zwei verschiedene Richtungen, doch Tobias interessierte sich nicht für den Pfad.
Fasziniert betrachtete er mehrere Schafe, die in der Sonne dösten. Es war still hier und der Junge konnte keine Menschenseele entdecken. Ihm fröstelte, die Strahlen wärmten noch nicht wirklich und er zog die Jacke enger um seinen Körper. Leider ließ sie sich nicht schließen und mit dem dünnen Hemd, das er trug, war der Aufenthalt im Freien ziemlich unangenehm.
Ein Schaf bemerkte ihn und trabte träge heran. Ein kleines Lämmchen folgte dem Schaf und blökte dabei leise. Tobias überkletterte vorsichtig den niedrigen Zaun. Er befürchtete, das Tier zu vertreiben, doch es kam weiter auf ihn zu. Der Junge rupfte einige Grasbüschel aus und hielt sie mit ausgestrecktem Arm hin. Das Schaf blieb ein Stück vor ihm stehen und betrachtete ihn neugierig. Jetzt holte auch das kleine Lamm auf, gesellte sich zu seiner Mutter und blickte ihn ebenfalls an. Tobias trat vorsichtig einen Schritt vor und hielt den Tieren das Gras hin. Schließlich näherte er sich soweit, dass er dem Lamm die Büschel vor die Nase halten konnte. Die Tiere zeigten keine Scheu und blickten weiter neugierig auf den ungebetenen Gast.
Plötzlich ließ Tobias das Gras fallen und griff dem Lamm in das weiche Fell im Nacken. Mutter und Kind blökten erschrocken auf und das Schaf machte einen Satz nach hinten. Ängstlich schaute sie nun auf ihr Kind, das Tobias fest im Griff hielt. Das Lamm wand sich und wollte fortlaufen, doch der Junge war stärker und hielt es eisern mit einer Hand fest.
Inzwischen hatte er einige Übung darin, den Korkenzieher aus seinem Schweizer Taschenmesser mit einer Hand und den Zähnen herauszuklappen. Mutter und Kind blökten ängstlich und Tobias überkam ein Gefühl der Ruhe. Als er die Spitze der Metallspirale in das linke Auge des Lamms drückte, blökte das in Todesangst und vor Schmerzen laut auf. Die Mutter stand unschlüssig da und musste mitansehen, wie der kleine Mensch ihr Kind misshandelte.
Tobias überkam wieder dieses Glücksgefühl, das er schon kannte und so sehr liebte. Plötzlich wurde das Tier in seiner Hand schlaff, aber er wusste, dass es nur ohnmächtig und noch nicht tot war. Seelenruhig und leise vor sich hinlächelnd nahm er sich das andere Auge vor. Dann zog er das Tier an den Hinterbeinen zum Zaun zurück. Mit einer Kraftanstrengung, die er sich eigentlich nicht zugetraut hätte, hievte er den schlaffen Körper über den Zaun und kletterte rasch hinterher.
Jetzt hatte die Mutter sich von ihrem Schreck erholt und rannte auf den Zaun zu. Mit voller Wucht und in ohnmächtiger Sorge um ihr Kind rannte sie gegen das Holz. Doch dafür hatte Tobias keinen Blick mehr. In seinen Ohren klang das ängstliche Blöken wie das schönste Lied, das er seit langem gehört hatte. Langsam zog er seine Beute in den Schutz des Waldes.
Das