Lücke hinterlassen. Alle schienen ratlos zu sein, so habe ich dein Aufgabengebiet übernommen. Endlich konnte ich zeigen, was ich kann. Doch noch all die Jahre, nachdem du weg warst, haben die Menschen immer nur von dir und deinen Fähigkeiten gesprochen. Ich habe bei Tschönpel die Seite mit der Beschwörung gefunden, und glaube mir, ich habe mir Wort für Wort eingeprägt. Leider war er so klug, bald darauf die Seite verschwinden zu lassen. Nur diesen verfluchten Dolch konnte ich nicht finden. Aber ich hatte in alten Aufzeichnungen die Beschreibung des Dolches gefunden. Nun, ich habe mir dann selbst einen gebastelt und nach einigen Fehlversuchen hat es dann auch endlich funktioniert.« Er lächelte abfällig. »Die ersten paar Male hab ich es an sterbenden, alten Menschen ausprobiert, ist nicht immer so gelaufen wie ich es mir gewünscht habe.« Daphne war entsetzt und fragte ihn: »Was meinst du, mit einigen Fehlversuchen?«, obwohl sie die Antwort schon ahnte. Er zuckte nur die Schultern, als er antwortete, »Leider kann ich nicht, wie du, die Seelen sehen und so hab ich mich halt ein paar Mal verschnitten.« Daphne schüttelte traurig den Kopf und sprach eindringlich, »Was tust du nur, Ngödup? Du verstößt gegen alle Regeln des Buddhismus; das Leben und die Seele sind heilig.« Ngödup sah sie wütend an. »Ich habe nicht erwartet, dass du mich verstehst. Ich bin ein neuer Buddha, mit eigenen Gesetzen. Und das Kloster haben mir die Chinesen zur freien Verfügung gestellt.« Daphne ahnte Schreckliches und verstand plötzlich, er, Ngödup, war der Spion im Kloster. Daphne war sich sicher, dass die chinesische Regierung von alldem nichts wusste. Zhang Lieh handelte im Alleingang und nur für seine Zwecke. Zhang Lieh hatte es sich auf einem Stuhl direkt neben Marc bequem gemacht, und Ngödup wandte sich nun ihm zu. Daphne verstand noch mehr: Ngödup würde die Seelen von Marc und Zhang Lieh tauschen. Sie begann wie wild auf ihrem Stuhl zu toben. Daphne schrie aus Leibeskräften, wenn Marc doch nur endlich zu sich kommen würde. Doch er war immer noch ohne Bewusstsein. Noch einmal drehte sich Ngödup zu ihr herum, aber nur, um ihr mit der flachen Hand ins Gesicht zu schlagen. Dabei zischte er: »Schluss jetzt, Weib, ich hoffe, du genießt das dir dargebotene Theater. Marc kann nicht aufwachen, er hat eine Betäubung bekommen.« »Nein!«, schrie sie weiter. »Das könnt ihr nicht machen, hört sofort auf!« Dann schrie sie Marcs Namen, doch der rührte sich nicht. Zhang Lieh trank eine kleine Flasche leer und wurde augenblicklich ohnmächtig. Daphne konnte sehen, wie der Astralkörper Zhang Liehs, verbunden durch eine dünne, silberne Schnur mit seinem Körper, aus Zhang Lieh heraustrat. Wie sie erwartet hatte, war sein Astralleib klein und unterentwickelt, was bei Menschen, die sich nicht mit ihrer geistigen Entwicklung beschäftigten, normal war. Ngödup griff nach der Schnur, und Beschwörungen murmelnd, durchschnitt er diese und hielt sie fest. Ngödups Hand, die den Dolch hielt, tauchte in Marcs Körper und zog mit Gewalt seinen Astralkörper heraus. In Daphnes Augen brannten Tränen, ihr Herz pochte so heftig, dass sie dachte, es müsse ihr aus der Brust springen. Sie war nicht mehr fähig, zu schreien, sie konnte nur zusehen, wie das Unglück seinen Lauf nahm. Ja, sie hasste Zhang Lieh aus tiefstem Herzen, erst hatte er ihr das Kind genommen und jetzt nahm er ihr auch noch den Liebsten. Mittlerweile hatte Ngödup auch die silberne Schnur, die den Astralleib mit dem Körper von Marc verband, durchtrennt. Daphne fiel auf, dass er den Astralleib nur in Verbindung mit dem Dolch ertasten konnte, würde er ihn weglegen, fassten seine Hände ins Leere. Sie beobachtete, wie Ngödup Zhang Liehs Astralleib mit einer Hand zu Marcs Körper führte, in der anderen hielt er Marcs Astralkörper, dann führte er Marcs Körper und Zhang Liehs Astralkörper zusammen. Ein gleißendes Licht, Funken sprühten wie bei einem Feuerwerk, Sekunden später verschwand Zhang Liehs Astralleib in Marc. Nun wiederholte er alles mit Marcs Astralleib und Zhang Liehs Körper. Ngödup nickte zu Jun Kao, dieser löste die Fesseln von Marc, warf ihn sich über die Schulter und verschwand mit ihm. Ngödup verbeugte sich vor Daphne und sagte: »Ich bin mir sicher, wir werden uns noch einmal begegnen, aber nicht mehr in diesem Leben.« Woher er so plötzlich die Waffe hatte, war Daphne schleierhaft, aber sie wusste, wenn er zweimal mit dem stark lähmenden Gift auf sie schoss, würde sie in zwei Sekunden tot sein. Die ganze Zeit hatte Hu Lien bewegungslos hinter Daphne gestanden, er hatte nicht einen Finger gerührt, um Marc zu helfen, aber jetzt zögerte er nicht. Hu Lien warf sich mit einer Schnelligkeit und Geschmeidigkeit, die man von ihm nie erwartet hätte, vor Daphne. Keinen Moment zu früh, denn beide Schüsse trafen ihn. Ngödup fluchte, hatte aber auch keine Zeit mehr, abermals auf Daphne zu schießen, denn jetzt brach die Hölle los. Das Sonderkommando der Ordnungshüter stürmte die Fabrik, höchste Zeit für Ngödup zu verschwinden. Hu Lien schien noch zu leben, denn Daphne konnte nicht sehen, dass seine Seele seinen Körper verließ. Doch Daphnes größte Sorge galt Marc, der im Körper von Zhang Lieh immer noch ohne Bewusstsein am Boden lag. Sie stürzte zu ihm, streichelte sein Gesicht und rief ihn beim Namen. Dann sah sie Betty und einige fremde Männer auf sie zustürmen, sie spürte, dass sie von einer Betäubungskugel getroffen wurde. Irgendein übereifriger Beamter hatte wohl geschossen. Daphne nahm noch kurz das brennende Nervengift wahr, dann stürzte sie in die Dunkelheit; wohltuend, erlösend, keine Gedanken, keine Schmerzen.
Als sie wieder die Augen öffnete, erkannte sie, dass sie im Krankenhaus lag, sie versuchte, sich aufzurichten. Sofort erschien Betty an ihrem Bett. »Gott sei Dank«, sagte Betty wirklich erleichtert, »du bist endlich aufgewacht.«
»Wie lange bin ich denn schon hier?«, fragte Daphne undeutlich.«
»Du hast zwei Tage im Koma gelegen«, antwortete Betty, »du warst sehr schwach und der Fangschuss war wohl etwas zu viel für dich gewesen.« Die Tür öffnete sich und ein junger Arzt stürmte ins Zimmer, er bat Betty, draußen zu warten. Daphne konnte sehen, dass es Betty nicht so recht war, den Raum zu verlassen, aber sie fügte sich. Nach einigen Untersuchungen fragte der Arzt: »Wie fühlen Sie sich?« »Ganz gut«, antwortete Daphne und wollte sich abermals aufrichten, doch der Arzt drückte sie sanft in die Kissen zurück. »Sie werden wohl noch einige Tage liegen müssen«, sagte er, »es ist sowieso ein Wunder, dass der Fötus diese ganzen Strapazen unbeschadet überstanden hat.« Daphne starrte ihn verständnislos an, unfähig, das Gesagte zu realisieren. »Welcher Fötus?«, fragte sie dann endlich und es fühlte sich an, als sei ihr Körper taub und gefühllos. Der Arzt tätschelte ihr beruhigend die Hand und meinte: »Sie waren in einem absoluten Schockzustand, als Sie hier eingeliefert wurden. Nach eingehenden Untersuchungen stellten wir fest, dass bei Ihnen eine Abtreibung vorgenommen worden ist. Aber«, er machte eine kleine Pause, »der Arzt war wohl ein richtiger Stümper, denn er hat übersehen, dass Sie mit Zwillingen schwanger waren.« Daphne kämpfte mit den Tränen, für einen kurzen Moment durchlebte sie alle Facetten der Gefühle. Dann hörte sie wieder die Stimme des Arztes. »Für zwei oder drei Tage werden wir Sie noch hier bei uns behalten, aber Sie müssen sich auf jeden Fall noch schonen. Sie sollten nach Möglichkeit noch nicht aufstehen und jede Art von Stress vermeiden.« Er hatte sich schon zum Gehen umgewandt, als Daphne noch fragte, »In welcher Schwangerschaftswoche bin ich denn?«
»Sie sind erst in der dritten Woche schwanger«, antwortete der Arzt. »Da kann noch sehr viel schiefgehen, deshalb sollten Sie sich auch schonen«, sagte er und verließ auch schon wieder den Raum. Daphne legte die Hände auf den Bauch und schloss die Augen. Eine Welle des Glückes durchströmte sie; also hatten die Geistwesen doch rechtbehalten. Im Stillen sprach sie mit ihrem Kind. »Ab jetzt werde ich dich mit meinem Leben beschützen, mein Kleiner, hab keine Angst.« Kaum hatte der Arzt das Zimmer verlassen, stürmte auch schon Betty wieder herein. Daphne musste sich zwingen, ihre Gedanken wieder auf das Außen zu richten. »Fühlst du dich gut genug, um mir einige Antworten zu geben?«, fragte Betty ohne Umschweife. Daphne seufzte und sagte: »Bevor ich das tue, könntest du mir erst ein paar Fragen beantworten?« Betty zuckte mit den Achseln. »Was willst du denn wissen?«, fragte sie zurück. »Was ist mit den zwei Chinesen?«, fragte Daphne und versuchte, die Sorge in ihrer Stimme zu unterdrücken. Betty lächelte und meinte: »Der Riese hat die zwei Betäubungsschüsse überlebt, ansonsten ist er sehr schweigsam. Ich denke, er versteht uns einfach nicht, ich versuche gerade einen Dolmetscher zu finden. Der andere liegt auf der Intensivstation. Die Ärzte meinen, er mache es nicht mehr lange, Leberzirrhose im Endstadium.« Daphne war blass geworden, ihre blauen Augen hatte sie weit aufgerissen. Betty war das nicht entgangen und sie sagte: »Nun reg dich doch nicht so auf, Schätzchen. Ich glaube, er bekommt nur das, was er auch verdient. Ich hoffe, er hält noch so lange durch, dass wir ihn wenigstens zu der ganzen Sache vernehmen können.« Die Art, wie sie das sagte, zeigte Daphne,