Ratten war alles, was es sonst noch gab, nur noch in Inselbiotopen zu bestaunen. Betty ging mit ihrem Ohr dichter an die Holzschachtel, um besser hören zu können. Kein Zweifel, dort war etwas eingesperrt und wollte hinaus. Die arme Kreatur hatte bestimmt Hunger und Durst, dachte sie. Einige Minuten stand sie unsicher vor der Schachtel und kämpfte mit sich, dann gewann ihre Neugier. Vorsichtig drückte sie den Hebel, und die Verriegelung sprang auf, dann hob sie den Deckel ein ganz klein wenig an und versuchte hineinzuspähen. Betty sah nichts, also hob sie den Deckel langsam etwas höher, als plötzlich etwas silbriggrünes aus der Schachtel schoss und an ihr vorbeiflog. Mit einem Schreckensschrei ließ sie den Deckel fallen und sprang ein Stück zurück. Was bitte, war das gewesen?, fragte sie sich. Ein Tier war das auf jeden Fall nicht. Sie schlich in ihr Schlafzimmer und holte ihre Waffe, damit fühlte sie sich schon sicherer. In gebückter Haltung, zum Gegenangriff bereit, machte sie sich auf die Suche nach dem Gegenstand. Sie staunte nicht schlecht, als sie an ihrer Wohnungstür, in Augenhöhe, einen kleinen, silbernen Dolch mit grüner Klinge schweben sah. »Hier will mich jemand auf den Arm nehmen«, sagte sie laut und schaute sich um, doch sie war allein. Vorsichtig näherte sie sich dem Dolch, an seinem hinteren Ende hing eine lange, silberne Kette. Betty traute sich nicht, den Dolch anzufassen, und so starrte sie ihn eine kleine Weile nur an. Sanft bewegte sich der Dolch an der Tür herauf und herunter. Betty trat einen Schritt zurück, doch der Dolch bewegte sich weiter. Das ist ja irre, dachte Betty, das wird mir kein Mensch glauben. Jetzt scharrte er an der Tür, wie ein kleines Tier, das gern hinaus wollte. Bettys Herz schlug noch immer heftig, sie überlegte, ob es sich hierbei doch um einen Trick handeln könnte, doch so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte nichts Außergewöhnliches erkennen. Marc wird mir da einiges zu erklären haben, dachte sie grimmig. Sie nahm allen Mut zusammen und streckte die Hand nach dem Dolch aus. Mit kleinen Bewegungen wich er ihren Fingern aus. Betty schüttelte ungläubig den Kopf. »Komm her«, sagte sie sanft zu ihm, »ich tue dir schon nichts«. Wieder klopfte der Dolch sanft gegen die Tür. »Hör mal, mein kleiner seltsamer Freund«, sprach sie weiter, »Marc hat nichts von Gassi gehen mit dir gesagt, also, husch, husch, ab zurück in die Schachtel.« Als sie Marcs Namen erwähnte, schlug er heftiger gegen die Tür. Betty stutzte. »Willst du zu Marc?«, fragte sie versuchsweise. Wieder schlug der Dolch heftig gegen die Tür. Betty überlegte angestrengt, sie stand hier und sprach mit einem Gegenstand, der eigentlich kein Eigenleben haben durfte. Die Frage war, verlor sie den Verstand, oder war das real, was sie sah? Der Dolch schwebte weiter erwartungsvoll an der Tür. Betty versuchte es noch einmal, sie sagte einfach nur, »Marc«, und wieder klopfte er heftiger gegen die Tür. Betty lächelte verschmitzt und fragte, »Wie ist es denn mit dem Namen Pia?« Nichts, der Dolch schwebte reglos, Betty dachte einen Moment nach, dann sagte sie, »Und wie ist es mit dem Namen Daphne?« Wie wild begann er an der Tür hoch- und herunterzuflitzen, zwischendurch klopfte oder kratzte er an der Tür. Dabei blitzte seine grüne Klinge im Licht gefährlich auf. Betty war so erschrocken, dass sie einen Schritt zurücktrat, irgendetwas war hier oberfaul, der kleine Dolch wollte unbedingt zu Marc. Sie setzte sich ihr Head-set auf und versuchte, Marc zu erreichen. Keine Verbindung. Seltsam, dachte sie, er hat doch heute Dienst. Betty lief durch die Wohnung und suchte einige Sachen zusammen. Zuletzt zog sie ihre Jacke an. Dann nahm sie ihren Mut zusammen und packte entschlossen die silberne Kette, an der der Dolch hing. Wieder sprach sie zu dem Dolch. »Du möchtest zu Mark? Gut, ich auch, ich kann nur für dich hoffen, dass du weißt, wo er ist.« Dann öffnete sie die Wohnungstür, der Dolch hatte ganz schön Kraft, doch sie hielt die Kette fest in der Hand. Er stoppte notgedrungen an der Eingangstür, schwebte aber ungeduldig einige Zentimeter hoch und runter. Kaum war sie mit ihm draußen, versuchte er, ihr wieder davonzuflitzen. Mit einiger Mühe konnte sie ihn mit zu ihrem Auto ziehen. Verstohlen sah sie sich um. Hoffentlich sieht mich keiner, dachte Betty. Im Auto zeigte er ihr die Richtung, indem er entweder an der Frontscheibe hing oder von der rechten Seitenscheibe zur linken flitzte. Von Minute zu Minute schien er es eiliger zu haben. Die Gegend, zu der er Betty lotste, gefiel ihr gar nicht, der alte Hafen, leere, baufällige Fabriken und Lagerhallen. An einer Seitenstraße schlug der Dolch so heftig gegen die Seitenscheibe, dass sie dachte, diese würde zerbrechen. Betty parkte ihren Wagen, packte wieder die Silberkette und stieg aus. Der Dolch zog sie direkt zu einer leerstehenden Fabrikhalle, sie hatte die Kette mittlerweile um ihr Handgelenk geschlungen; dann plötzlich, fiel er in Richtung Boden und baumelte leblos an der Kette. »Was ist denn jetzt los?«, flüsterte Betty, aber wie sie erwartet hatte, bekam sie keine Antwort. Sie hatte das Gefühl, am Ziel ihrer Reise angekommen zu sein, irgendetwas ermahnte sie, leise und vorsichtig zu sein. An der Außenseite der Fabrikhalle sah sie eine Stahltreppe. Sicher war es besser, sich erst einmal einen Überblick zu verschaffen, als unvorbereitet in die Halle zu stürmen. Etwas außer Atem kam sie oben an und drückte ihr Gesicht gegen die verschmutzte Scheibe. Als sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, ließ ihr das, was sie sah, das Blut in den Adern gefrieren. Marc hing gefesselt, die Arme nach oben gezogen, an einer Eisenkette, die von der Decke hing. Sein Kopf war nach vorn gefallen, so dass sein Kinn seine Brust berührte. Das konnte nur bedeuten, dass er bewusstlos war. Ja, sie liebte ihn noch, denn ihr Herz krampfte sich bei seinem Anblick schmerzhaft zusammen, zum tausendsten Mal wünschte sie sich an Pias Stelle. Sie ließ ihren Blick weiter durch die Halle schweifen. Sie sah zwei hünenhafte Chinesen, einer bei Marc, und einer stand hinter Pia. Bei Pia am Tisch stand ein kleiner Chinese, der schob Pia gerade ein Stück Papier zu, anscheinend wollte er, dass sie etwas aufschrieb. Vorsichtig holte sie ihr kleines Head-set aus der Tasche, stellte es nur auf Tonübertragung und rief die Zentrale an. Sofort meldete sich eine freundliche Stimme. »Notruf des Ordnungsamtes, mit wem darf ich Sie verbinden?« »Abteilung eins-neun-zwei«, flüsterte Betty, »aber bitte schnell.« Kaum hatte sie es gesagt, machte es auch schon klick, und sie erkannte die Stimme ihres Kollegen Brian. »Hör zu«, begann Betty flüsternd ohne Umschweife. »Betty hier, ich habe eine Entführung des Kollegen Rusher und schwere Körperverletzung. Ich bitte um Verstärkung, ich bin am alten Hafen, an einer leerstehenden Eisenfabrik, kommt ohne Sirene.« Brian wiederholte das Gehörte und versprach, sofort die Kollegen loszuschicken. Ein kurzer Blick zur Uhr, und Betty wusste, zehn Minuten würde sie warten müssen. Dabei sah sie, dass der kleine Dolch, den sie an der Kette um ihr Handgelenk geschlungen hatte, unbemerkt verschwunden war. Leise fluchte sie vor sich hin.
Als sie wieder hinunter in die Halle sah, stand der Chinese vor Marc und hielt ihm einen Dolch an den Hals, es sah aus, als wollte er ihm die Kehle durchschneiden.
Zhang Lieh schien sich zu beruhigen, denn er trat von Marc zurück und stellte sich wieder hinter Daphne. »Ich habe mir schon gedacht, dass Sie ihn lieber sterben lassen«, sagte er böse und senkte seine Stimme wieder zu einem Flüstern, »deshalb habe ich, wieder einmal, eine Überraschung für Sie.« Er richtete sich auf und rief, »Komm herein, Erleuchteter Lama!« Daphne sah einen sehr alten Mönch durch die Halle schlurfen, sie verstand nicht, was das nun wieder bedeuten sollte. Seine orangefarbene Kutte leuchtete im trüben Licht. Als der alte Mönch vor ihr stand, sagte Zhang Lieh: »Sie können ihn ruhig ansehen, meine liebe Daphne.« Der Mönch war ohne Zweifel sehr alt, doch in seinem Gesicht wollten die Augen nicht so recht zum Alter passen, sie schienen von innen heraus zu leuchten. Daphne schnappte nach Luft, dieser Mensch hatte schon einmal eine Seelenübertragung gemacht, sie wusste, dass sich die Augen danach unwiderruflich veränderten. Auch konnte ihr Geist nicht in seinen Kopf eindringen. Der alte Mönch lachte gackernd und sagte: »Wahrlich Daphne, du hast dich aber sehr verändert.« Sie spürte leichte Panik in sich aufsteigen, dieser Mensch kannte sie. »Ja«, sagte er gedehnt, »ich kenne dich und du kennst mich.« Daphnes Gedanken rasten, Zhang Lieh kam ihr zur Hilfe, weil er voller Ungeduld rief. »Schluss jetzt, Ngödup, lass uns beginnen, bringen wir es nun zu Ende.« »Ngödup?«, fragte Daphne schwach. »Was hast du vor?«
»Ich habe lange darauf gewartet, dich wiederzusehen«, antwortete Ngödup verächtlich. »Nur hätte ich nie gedacht, dass du einen Seelentausch machst. Ich habe dich schon immer gehasst, auch als du noch im Kloster gelebt hast. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich dich damals schon hochkant aus dem Kloster geworfen«, sprach er weiter. »Aber nein, du warst ja der Liebling aller. Jetzt, meine Liebe, zeige ich dir, dass ich schon immer besser war als du. Schau, was ich gelernt habe, du wirst staunen!«, rief er. Er besah sich das Blatt, auf dem Daphne die Beschwörung aufgeschrieben hatte und ließ es achtlos fallen. Mit heruntergezogenen Mundwinkeln sagte Ngödup: