Der Seelendieb. Annette Philipp-Scherer
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Marc war noch schnell an einer Garküche vorbeigefahren, um für Daphne und sich ein verspätetes Mittagessen zu besorgen. Mit allerlei kleinen Tütchen bepackt, kam er endlich zu Hause an. Er legte seinen Finger an den Scanner der Tür, und mit einem leisen „Plopp“ öffnete sie sich. Sofort als er den Raum betrat, merkte er, dass irgendetwas nicht stimmte. Doch bevor er reagieren konnte, sah er einen kleinen Chinesen, der eine Waffe auf ihn richtete und abdrückte. Das letzte, was er hörte, war eine hämische Stimme, die sagte, »Willkommen zu Hause, Marc.« Dann sackte er schon bewusstlos zusammen. Jun Kao warf Marc über die Schulter, trug ihn hinaus und ließ ihn recht unsanft in den Kofferraum ihres Mietwagens fallen.
Daphne erwachte mit heftigen Kopfschmerzen, der Raum, in dem sie lag, war in Halbdunkel getaucht. Wie lange sie schon dort lag, wusste sie nicht. Staub flirrte in der Luft, und durch die trüben Fenster sah sie etwas Sonnenlicht. Man hatte alte Kleidung aufeinandergeworfen und sie daraufgelegt. Ihre Hände waren schmerzhaft auf den Rücken gefesselt. Mühsam kam sie auf die Knie und ließ ihren Blick weiter durch den Raum schweifen. Es sah aus wie ein ehemaliger Umkleideraum. Überall waren schmale Schränke, die Türen standen weit offen, der Boden war fingerdick mit Staub und Dreck übersät, und es roch einfach widerlich nach Moder und altem Schweiß. Die Tür öffnete sich, und der riesige Chinese betrat den Raum. Mit wenigen Schritten trat er hinter sie, und unsanft wurde sie auf die Beine gestellt. »Wo bin ich?« fragte sie. Er antwortete nicht und schob sie vor sich her. Schließlich stand sie in einer großen Halle, jetzt konnte sie sehen, dass sie sich in einer alten, verlassenen Fabrikhalle befand. Von der Decke hingen schwere Eisenketten, und überall standen alte große Maschinen. Auch hier fand etwas Sonnenlicht seinen Weg durch das kaputte Dach.
Angestrengt starrte sie in das Halbdunkel. In der Mitte der Halle hatte man einen Tisch mit zwei Stühlen gestellt, mit etwas Mühe konnte sie dort eine Gestalt sitzen sehen. Ungeduldig rief der Mann, »Bring sie endlich her, trödle nicht so, Hu Lien.« Wieder wurde sie vorwärts gestoßen, bis sie endlich am Tisch stand. Noch bevor sie dem fremden Chinesen in die Augen blicken konnte, wurden ihre Augen von hinten mit einer Binde verdeckt, und sie wurde unsanft auf einen Stuhl gedrückt. Anscheinend war der Chinese aufgestanden und hinter sie getreten, schon die Stimme an ihrem Ohr jagte ihr Ekelschauer über den Rücken. »Sehen Sie, meine Liebe,« sagte er mit öliger Fistelstimme, »mein Name ist Zhang Lieh, ich bin chinesischer Geheimagent, einer der besten, wie ich behaupten darf.« Zhang Lieh machte eine bedeutsame Pause, dann sprach er weiter. »Seit einigen Jahrzehnten suchen wir glücklos nach der verborgenen Seite des Bardo thödol und dem sagenhaften kleinen Dolch.« Er hatte sich einige Schritte von ihr entfernt, und sie hörte ihn mit Papier rascheln, dann sprach er weiter. »Dank des Lamas Tschönpel, oder soll ich besser sagen, Tse Wang, habe ich wichtige Aufzeichnungen über das Kloster Sakja in die Hände bekommen. Ich habe sie gründlich studiert und bin auf einige interessante Eintragungen gestoßen. Ich denke, ich helfe Ihrer Erinnerung auf die Sprünge, wenn ich Ihnen etwas daraus vorlese.« Zhang Liehs Stimme war jetzt gefährlich leise, als er zu lesen begann. »So schreibt dieser Tse Wang, dass eine nichttibetische Frau im Kloster aufgenommen wurde, leider verrät er keinen Namen. Ein halbes Jahr später schreibt er, dass sie große Fortschritte mache und dass sie den Weg der Heilerin einschlagen wird. Er schreibt weiter, dass sie „die Gabe“ besitze, was immer das auch heißen mag. Wieder ein Jahr später schreibt Tse Wang, dass diese Frau tibetisch spreche, als sei sie dort geboren und aufgewachsen. Später wird sie zur Rigdsin, was soviel heißt, wie „Erfasserin des Wissens“ und sie wird Lama. Wenn ich mich nicht täusche, ist das ein Lehrer. Sie begleitet die Sterbenden auf ihrem Weg, was wirklich sehr außergewöhnlich ist, da sie nicht aus Tibet stammt. Dann verschwindet dieser Tse Wang von einem Tag auf den anderen und an seine Stelle tritt dieser Tschönpel. Wissen Sie,« sagte Zhang Lieh mit vor Hohn tropfender Stimme, »die Handschrift ist aber dieselbe geblieben. Soll ich Ihnen seinen ersten Eintrag vorlesen?« ,fragte er, und ohne auf ihre Antwort zu warten, las er. »Jamisang hat unsere Rigdsin gezwungen, eine Seelenübertragung an meinem und seinem Körper durchzuführen. Seit diesem Tage haben sich die Augen der Rigdsin und die meinen verändert, wir haben in das Reich Buddhas geblickt. Unsere Rigdsin wird den Dolch nun bis an ihr Lebensende bei sich tragen müssen.« Zhang Lieh war wieder hinter Daphne getreten, seine Hand legte sich schwer auf ihre Schulter, seine Finger liebkosten die zarte Haut ihres Halses. Dabei suchten sie nach einer Kette. Sie wand sich, um der Berührung zu entgehen. Wieder war seine Stimme dicht an ihrem Ohr als er sagte: »Soll ich Ihnen die letzte Eintragung über diese geheimnisvolle Rigdsin vorlesen?« Daphne konnte nicht antworten, dann hörte sie, wie er weiter las. »Die Chinesen haben unseren Jimpa getötet. Wir konnten nicht riskieren, dass die Rigdsin in die Hände der Chinesen fällt und haben sie in ihre Heimat zurückgebracht.« Jetzt drückten die Finger auf ihrer Schulter schmerzhaft zu, krallten sich in ihre zarte Haut, Daphne entwich ein Schmerzenslaut. Seine Stimme wurde scharf und schneidend. »Nun, innerhalb von vierundzwanzig Stunden wusste ich, dass ich Daphne Murano suchen muss. Wie gesagt, ich bin einer der besten Agenten, doch diese Murano hat den Dolch nicht mehr, und ich konnte mich selbst davon überzeugen, dass ihre Augen verloschen sind.« Zhang Lieh kicherte, klatschte in die Hände und rief: »Na, so etwas. Dann habe ich mir von den Schwestern alles über ihren Enkel erzählen lassen. Nach längerem Bohren erfuhr ich auch von Ihnen, meine Liebe, und vor allem ist aufgefallen, wie sich Ihre Augen verändert haben.« Seine Hände griffen in ihr Haar und rissen ihr