Der Seelendieb. Annette Philipp-Scherer

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Der Seelendieb - Annette Philipp-Scherer

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war gerade auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer, als ihr plötzlich leicht schwindelig und übel wurde. Schnell setzte sie sich auf das Sofa und schloss für einen Moment die Augen. Es war ihr, als würde sie durch Raum und Zeit gerissen. Selbst wenn sie gewollt hätte, sie hätte nicht mehr aufstehen oder die Augen öffnen können. Ihr war sofort klar, dass sie gerufen wurde, dieser Zustand war ihr wohlbekannt. Doch noch nie hatten die Geistwesen, ohne dass sie in tiefer Meditation war, mit ihr Kontakt aufgenommen. Das war ihr fremd, ängstigte sie. Endlich legten sich die Übelkeit und der Schwindel. Ihr Geist schwebte im vollkommenen Nichts, eine tiefe Ruhe überkam sie. Daphne ließ sich tiefer hineingleiten in diesen wohlvertrauten Zustand, ihre Seele löste sich von ihrem irdischen Körper. Alles, was sie noch wahrnahm, war ein helles, goldenes Licht und unendliche Liebe. Dann hörte sie die Stimme ihres Freundes und Lehrers Tse Wang, oder wie er in seinem zweiten Leben nach dem Seelentausch hieß, Tschönpel. »Meine liebe Tochter, verzeih, dass ich mich auf so ungewöhnliche Weise bei dir melde. Mir bleibt leider nicht viel Zeit, ich habe mein irdisches Dasein vor einigen Wochen beendet, doch du, mein Kind, schwebst in höchster Gefahr. Die Chinesen haben unser Kloster geplündert, sie waren wieder einmal auf der Suche nach der geheimen Seite aus dem Bardo thödol. So etwas habe ich seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt. Mein sicheres Gefühl sagt mir, dass dies die Tat eines einzelnen war, der nichts Gutes im Sinn hat und etwas ganz Bestimmtes vorhat. Sie haben im Haus der Dämonen gewütet, als seien sie selbst welche, doch gefunden haben sie dort nichts. Ich vermute stark, dass wir unter den Schülern einen Verräter haben, denn sie wussten erstaunlich gut über die vergangenen Jahrzehnte Bescheid. Auch wussten sie, wo die Klosteraufzeichnungen zu finden sind. Leider haben sie auch all unsere Bücher aus der Bücherhalle mitgenommen. Ich bin mir ganz sicher, sie suchen als nächstes nach dem Dolch. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie die alten Aufzeichnungen des Klosters gelesen haben, um zu wissen, nach wem sie zu suchen haben. Bringe den Dolch zurück nach Tibet, du wirst wissen, was mit ihm zu tun ist.« Noch immer konnte Daphne nichts erkennen. Wie gern hätte sie ihm noch einmal in seine warmherzigen Augen gesehen. Doch was er dann sagte, ließ ihr Herz für einige Sekunden aussetzen. »Du weißt sicher, dass ich vor meinem Tode bestimme, wo und wann ich wiedergeboren werde.« Nach einer kleinen Pause sagte er, »Ich habe beschlossen, in der Seele deines Kindes wiedergeboren zu werden.«

      »Meines Kindes?«, fragte sie tonlos in die Dunkelheit. »Aber ich bin doch gar nicht schwanger«, flüsterte sie. Sanft klang seine Stimme, als er wieder sprach. »Doch, du bist schwanger, du weißt es nur noch nicht. Du musst zurück nach Tibet kommen«, sagte er mit Nachdruck, »ich habe dort für dich wichtige Aufzeichnungen gemacht. Ich habe sie so versteckt, dass nur du sie finden wirst. Komm nach Hause, Tochter, wir brauchen deine Hilfe.« Sie hatte das Gefühl, als würde ihr eine Hand liebevoll über die Wange streichen. Dann fühlte sie einen heftigen Ruck. Sie hörte Marcs sorgenvolle Stimme ihren Namen rufen. Zaghaft öffnete sie ihre Augen, Marc kniete vor ihr, sein Gesicht spiegelte Angst und Verzweiflung. »Großer Gott, Daphne«, rief er, »was ist denn mit dir geschehen?« Sie kam gar nicht dazu, irgendetwas zu sagen, in seiner Aufregung redete er immer weiter. »Ich komme zur Tür herein und finde dich ohnmächtig auf dem Boden. Kann ich etwas für dich tun? Soll ich dich in ein Krankenhaus fahren?« Sie richtete sich halb auf, ihr war immer noch ziemlich elend. »Nein, es geht mir schon besser«, würgte sie hervor, offenbar war sie vom Sofa auf den Boden gerutscht. Er half ihr auf die Beine und setzte sie wieder auf das Sofa zurück. »Ich hole dir erst einmal ein Glas Wasser«, stellte er fest. Als er weg war, legte sie verstohlen ihre Hand auf ihren Bauch. Sollte sie ihm sagen, dass sie ein Kind erwartete? Aber wenn sie das tat, würde er sie mit Sicherheit nicht nach Tibet fliegen lassen. Er würde sie gar nichts mehr machen lassen. Sie entschied, ihm erst einmal nichts von der Schwangerschaft zu erzählen. Marc brachte ihr das Glas Wasser und setzte sich neben sie. Erleichtert trank sie ein paar Schlucke und lehnte sich dann an ihn. Er legte wortlos von hinten seine Arme um sie und wartete, dass sie ihm erzählte, was vorgefallen war. Sie holte tief Luft und sagte dann, »Mein geliebter Lehrer und Freund Tse Wang ist gestorben, doch bevor er diese Welt ganz verlässt, bittet er mich, den Dolch nach Tibet zurückzubringen.« Sie spürte, wie Marc nickte und fuhr fort, »Das Problem ist nur, dass die Chinesen nach dem Dolch suchen werden und wir in Gefahr sein könnten.« Ungläubig fragte er, »Das alles hast du eben mal so während deiner Ohnmacht erfahren?« Sie nickte nur. Für einen kurzen Moment schwieg er. »Ich denke, du bist wirklich in Gefahr«, stellte er fest. »Ich werde gleich bei der Fluggesellschaft anrufen und uns für einen Flug nach Tibet registrieren lassen. Ich hoffe, wir müssen nicht so lange warten, bis sie eine Maschine vollhaben. Hast du eine Ahnung, wie schnell die Chinesen herausbekommen werden, wer und wo du bist?«, fragte Marc. Daphne zuckte mit den Schultern, dann lächelte sie und meinte, »Denk daran, sie suchen Daphne Murano und die liegt mit einem Schlaganfall im Altenheim im Bett. Selbst wenn die Chinesen sie finden, kann sie ihnen nichts sagen.« Für einen kurzen Augenblick hatte sie ein schlechtes Gewissen. In ihrem alten Köper war die Seele von Pia Richter gefangen und litt. »Es dürfte so gut wie unmöglich sein, eine Verbindung zu mir herzustellen«, sagte sie traurig. Marc hatte schon das Head-set auf dem Kopf und ließ sich verbinden. Mitten im Raum erschien die Holographie des Flughafenschalters. Eine junge Frau in dunkelblauem Kostüm erschien und sagte freundlich, »Willkommen bei Jump in the Sky. Wie kann ich Ihnen helfen?«

      »Ich hätte gerne zwei Flüge nach Tibet gebucht«, sagte Marc. Die junge Frau tippte etwas in ihren PC, dann drehte sie ihn so, dass beide den Bildschirm sehen konnten. »Ich brauche Ihre Namen«, sagte sie wieder freundlich.

      »Marc Rusher und Pia Rusher«, antwortete Marc.

      »Bitte scannen Sie Ihre Bankdaten ein«, forderte die junge Frau ihn auf. Marc scannte seinen Oberarm und wie gewohnt gab der implantierte Chip die Daten frei.

      »Zahlen Sie für beide?«, fragte die Frau am Schalter weiter.

      »Ja«, erwiderte Marc.

      »Ich schätze, dass die Maschine in drei Wochen nach Tibet fliegen wird, ganz genau kann ich das natürlich nie sagen. Sie bekommen zwei Tage vor Abflug von uns Bescheid.« Dann lächelte sie professionell. »Vielen Dank, dass Sie bei Jump in the Sky gebucht haben.«

      Als nächstes rief er seine Dienststelle an, wieder erschien ein Bild mitten im Raum. Betty, Marcs Vorgesetzte, saß am Schreibtisch. »Oh, hallo Marc«, sagte sie erfreut, dann drehte sie den Kopf. »Hallo Pia, wie schön, dich zu sehen«, sagte Betty mit etwas kühler Stimme. »Diese dunkelblauen Kontaktlinsen stehen dir gut.« Daphne verkniff sich eine Antwort; zum Glück sprach Marc gleich wieder. »Betty, ich brauche in etwa drei Wochen Urlaub.«

      Betty runzelte die Stirn. »Für wie lange denn?«, fragte sie. Marc zögerte einen kurzen Augenblick und meinte dann, »Vierzehn Tage werden reichen, denke ich.«

      »Ich schau mal nach. Wenn du morgen zum Dienst kommst, reden wir darüber«, sagte Betty. Auch Daphne musterte Betty heimlich. Sie trug ihre braunen Locken kurzgeschnitten, was ihr hübsches Gesicht gut zur Geltung brachte. Betty war groß, um einiges größer als sie und schmal, ja fast dünn. Auch wusste sie, dass Marc und Betty einmal ein Paar gewesen waren, und dass er sie wegen ihr verlassen hatte. Na ja, verlassen war nicht das richtige Wort; Betty hatte ihn freigegeben. Während Daphne ihren Gedanken nachhing, hatte Marc alles mit Betty geklärt und war dabei, das Gespräch zu beenden. Betty blickte noch einmal zu Pia, nickte ihr kurz zu und das Bild erlosch. »Sie mag mich immer noch nicht«, stellte Daphne fest.

      »Du meinst, sie mag Pia nicht«, berichtigte Marc sie. »Betty weiß nur, was in den Polizeiakten über Pia steht, mach ihr keinen Vorwurf«, sagte er tröstend. Daphne schwieg, ihre Gedanken wanderten wieder nach Tibet. Vor etwas mehr als sechzig Jahren lebte und liebte sie dort. Ihre Mitschülerin und kleine Schwester Tashi hatte ihr in Briefen mitgeteilt, dass auch das Kloster mittlerweile überdacht war. Dann hatte Tashi weniger und weniger geschrieben, bis ihre Briefe schließlich ganz ausblieben. Aber Daphne konnte fühlen, dass sie noch am Leben war. Daphne fragte sich, wo Tse Wang das Geld für die Überdachung des Klosters herhatte. Sie kannte Tse Wang gut genug, um zu ahnen, dass er wohl die Geldspenden

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