Im Land der drei Zypressen. Ute Christoph
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Читать онлайн книгу Im Land der drei Zypressen - Ute Christoph страница 15
Philippe führte sie in den Salon, der sich gegenüber dem Speisezimmer befand. Vivienne nahm auf dem ausladenden Sofa Platz, das mit smaragdgrünem Samt bezogen war. Philippe holte einen dazu passenden Beinhocker, den Vivienne gern, wenn auch verwirrt, in Anspruch nahm. Es stand – so hatte man sie gelehrt – nur Herren zu, einen Beinhocker zu benutzen, während die Damen ihre Füße sittsam auf dem Boden beließen. Doch im Hause der Héraults schien man auf Konventionen zwar großen Wert zu legen, doch keine Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Privilegien für Männer und Frauen zu machen.
„Habe ich Euch zu viel zugemutet?“ fragte Philippe, und Vivienne bemerkte aufrichtige Besorgnis in seiner Stimme.
„Aber nein, Euer Bericht hat mich sehr interessiert. Ich möchte mehr über Eure Arbeit erfahren. Es ist nur: Die Hitze und das ungewohnte Gehen, nachdem ich so lange liegen musste – das hat mich schnell geschwächt“, antwortete Vivienne und hob entschuldigend die Hände.
„Ihr möchtet mehr wissen?“ Philippes Augen blitzten auf. „Ich freue mich darauf, Euch alles zu erzählen, alles zu zeigen.“
„Bitte“, fragte Vivienne und beugte sich vor, „was hat es mit dem Bettenwechseln auf sich? Ich war unehrlich gegenüber Michel. Ich gab vor zu wissen, was es bedeutet, aber…“ Sie hob die Schultern.
„Das habt Ihr gestern unwissentlich beobachtet. Ihr saht, wie Männer, Frauen und Kinder Körbe in die Häuser brachten, die uns als Aufzuchtlokale dienen. Darin befanden sich Blätter und löchriges Papier Und sie kamen mit braunen Matten heraus. Nach der ersten Häutung der Raupen müssen wir die alten Lager mit den Exkrementen und Blattresten fortbringen. Erst werden löchriges Papier und frische Blätter auf die Raupen gelegt. Die Raupen kriechen darunter hervor, und wir übertragen sie auf neue Hürden. Die alten Lager rollen wir auf und schaffen sie weg. Das nennt man Bettenwechseln.“
Philippe zog die Stirn in Falten und sah ein wenig hilflos aus.
„Ja, jetzt habe ich verstanden – wirklich“, sagte Vivienne. „Und was passiert als nächstes?“
„Als nächstes? Nun, nach etwa 30 bis 35 Tagen hören die Raupen auf zu fressen. Dann stellen wir Spinnhütten auf.“
Philippe machte ein fragendes Gesicht.
„Ihr vermutet richtig“, gab Vivienne zu, „ich weiß nicht, was Spinnhütten sind.“
„Es handelt sich dabei um lose Bündel aus Stroh. Sie werden zwischen zwei Hürden aufgestellt. Die Raupen kriechen in diese Bündel“, erklärte Philippe. „Nachdem sich alle Raupen in die Spinnhütten zurückgezogen haben, warten wir acht Tage. In dieser Zeit verpuppen sie sich. Nun zerlegen wir die Spinnhütten und sammeln die Kokons ein. Anschließend wird sortiert. Schwache oder fleckige Kokons verwenden wir nicht.“
„Und was geschieht mit den Kokons, die nicht schwach oder fleckig sind?“
„Die kommen in besondere Öfen.“
Vivienne verzog das Gesicht. „Der letzte Teil behagt mir nicht sonderlich“, sagte sie.
Philippe lachte. „Ich stimme Euch zu. Als ich noch ein Junge war, habe ich jedes Jahr, wenn die Kokons in die Öfen kamen, bitterlich geweint. Aber im Laufe der Jahre habe ich mich offensichtlich daran gewöhnt.“
„Ach, hier finde ich Euch.“ Claire lehnte sich gegen den Türrahmen und verschränkte die Arme vor der Brust. Philippe und Vivienne, ganz vertieft in ihr Gespräch, sahen überrascht auf. Sie hatten sie nicht kommen hören.
„Maman sucht Dich. Sie ist mit den Büchern befasst und möchte einige Positionen mit Dir besprechen.“
Philippe erhob sich. „Ihr entschuldigt mich?“
„Selbstverständlich“, antwortete Vivienne.
„Aber geht bitte nicht fort. Ich komme wieder.“ Philippe zwängte sich an seiner Schwägerin vorbei.
Claire schloss die Tür hinter ihm. „Gefällt es Euch bei uns?“ fragte sie dann.
„Oh ja“, antwortete Vivienne und lächelte warmherzig. „Sogar sehr. Ihr seid eine sehr gastfreundliche Familie.“
„Mhmm“, machte Claire und nagte an ihrer Unterlippe.
„Euer Schwager war so freundlich, mir die Seidenraupenzucht zu erklären.“
„Aber Ihr hattet, so hoffe ich, dennoch Gelegenheit, Euch um die Speisenfolge für den heutigen Abend zu kümmern?“
Vivienne nickte.
„Nun, ich muss Euch leider verlassen. Es gibt viel zu tun auf einem so großen Gut wie Auziale. Wir sehen uns spätestens beim Abendessen.“ Claire setzte ein schiefes Lächeln auf und verließ den Raum.
Vivienne atmete tief ein. In Claires alleiniger Anwesenheit hatte sie sich plötzlich unwohl gefühlt. Hatte sie mit der Aussage, auf Auziale gäbe es viel zu tun, Kritik an ihrem Müßiggang und Philippes Arbeitsmoral geübt? Weil er sie heute auf einem Rundgang über das Gut begleitet hatte? Aus welchem Grund hatte Claire sie getadelt?
Das ist absurd, schalt sie sich und schüttelte die entstandene Beklommenheit ab.
Als Philippe in den Salon zurückkehrte, hatte sie die Begebenheit und das damit zusammenhängende Gefühl bereits als empfindliche Fantasie abgetan.
„Ich hoffe, dass Ihr so lange bei uns bleibt, bis wir mit den Kokons nach Lyon reisen.“
„Werden Sie dort verarbeitet?“ fragte Vivienne interessiert.
„Ja, ja“, bestätigte Philippe, „Ich glaube, wir könnten es einrichten, dass Ihr uns begleitet.“
Eine derart lange Reise hatte Vivienne noch nie getan. Natürlich wäre es aufregend, die große Stadt kennenzulernen, die alles, was sie jemals gesehen hatte, übertreffen würde. Andererseits fröstelte es sie bei dem Gedanken an die vielen anstrengenden Tage in einer Kutsche, die auf unbefestigten Wegen in die Ungewissheit fuhr. Zu frisch waren die Erinnerungen an die erst kürzlich erlebten Ereignisse im Wald.
„Oder Ihr erzählt mir, was dort passiert“, sagte sie fröhlich und sah Philippe fest in die Augen.
„Wenn Ihr uns bis dahin verlassen müsst, ...“ Der junge Mann rieb sich mit dem Zeigefinger nachdenklich über die Oberlippe, „dann erzähle ich es Euch.“
Vivienne glaubte, in seiner Stimme ein gewisses Bedauern auszumachen.
„Glaubt Ihr, schon wieder reiten zu können?“ fragte er dann.
Vivienne nickte.
„Dann zeige ich Euch morgen unseren Weinberg.“
Aber weder am nächsten noch am übernächsten Tag war es Philippe möglich, sich die Zeit für einen Ritt in den Weinberg zu nehmen. Wichtige Aufgaben auf dem Gut machten seine Anwesenheit unabdingbar. Vivienne verbrachte diese Tage in Christines Gemüsebeeten, jätete Unkraut, erntete Salat, unternahm kurze Spaziergänge mit Ludivine