Im Land der drei Zypressen. Ute Christoph
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Im Land der drei Zypressen - Ute Christoph страница 16
Vivienne blickte ihn an. Er hatte ein schönes Profil mit markanten Wangenknochen. Seine widerspenstigen Locken wippten mit dem Schritt seines Pferdes auf und ab.
Er drehte sich zu ihr und strich sich eine Locke aus der Stirn. Seine türkisfarbenen Augen leuchteten geheimnisvoll, aber warm im Licht der durch die Baumkronen gefilterten Sonne.
Am Ende der Allee wand sich rechter Hand ein Pfad in den Berg. Philippe lenkte sein Ross auf den leicht ansteigenden Weg, und Vivienne tat es ihm gleich. Der Pfad war gesäumt von knorrigen Montpelliereichen, deren Blätter im Licht wie Smaragde glühten.
Sie passierten aus Bruchstein errichtete Terrassen, auf denen sich kräftige Maronenbäume in den Himmel reckten. Vivienne fragte sich, wie viel Zeit und wie vieler Hände Arbeit es bedurft hatte, eine einzige Terrasse fertigzustellen. Die großen, schweren Steine lagen gleichmäßig aufeinander geschichtet, die Zwischenräume waren sorgsam mit Erde gefüllt. Auf einigen Terrassen entdeckte Vivienne kleine Häuser aus demselben Stein, die sich fast unsichtbar in ihre Umgebung fügten.
„Sie bestehen meist nur aus zwei Zimmern“, erklärte Philippe, als eine Kate abermals Viviennes Blick fesselte. „In dem unteren Raum leben Mensch und Tier, oben wird Heu gelagert.“
„Sind sie noch bewohnt?“ fragte Vivienne und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn, auf der sich winzige Schweißperlen gebildet hatten.
„Einige von ihnen“, antwortete Philippe. „Es gibt immer noch Menschen, die sich von Maronen ernähren. Aber mit Beginn der Seidenindustrie zog es immer mehr Familien in die Städte. Unsere Mazets im Weinberg sind ein wenig größer als diese Häuser.“
Sie kannte Mazets, die kleinen Herbergen, die den bei der Traubenlese von Weinberg zu Weinberg ziehenden Tagelöhnern Schutz und Unterkunft boten. Hier verbrachten die Arbeiter die Nacht, bevor sie mit Anbruch des neuen Tages die reifen, süßen Trauben pflückten oder zum nächsten Berg weiterzogen.
Der Pfad bog sich ein letztes Mal und endete ganz plötzlich vor einem Feld voller sprießender Rebstöcke – so weit das Auge blicken konnte. Arbeiter waren mit der sorgfältigen Pflege des Berges beschäftigt, entfernten Unkraut und schnitten trockene Triebe aus den Weinstöcken.
„Wir reiten zur Quelle“, schlug Philippe vor. „Unsere Pferde sind durstig, und uns würde eine kleine Erfrischung ebenfalls gut tun.“
Sie ritten an den Arbeitern vorbei, die neugierig aufsahen, an ihre Mützen tippend grüßten, um sich dann wieder mit gebeugten Rücken den Reben zu widmen.
Klares, kaltes Wasser sprudelte aus dem Berg in ein Becken, schwappte über den Rand und versickerte lautlos in der Erde.
Sie saßen ab. Philippe nahm zwei Holzbecher aus einer am Sattelknauf seines Tieres befestigten Tasche und füllte sie mit Wasser. Vivienne trank gierig ihren Becher leer.
„Mhmm, das tut gut“, sagte sie und füllte den Becher erneut. Das kalte Wasser perlte glitzernd über ihre warme Hand, in den Tropfen die Farben des Regenbogens.
Ihr Begleiter lächelte und strich sich eine Locke aus der Stirn. „Ich habe uns Proviant einpacken lassen. Das Reiten hat Euch hoffentlich ein wenig Appetit gemacht?“
„Sehr verlockend“, antwortete Vivienne, während Philippe sich wieder der Satteltasche zuwandte. „Da haben wir Brot, Käse, kaltes Fleisch, Obst und etwas, auf dem wir uns niederlassen können.“
Er breitete die Decke aus, an die Agnès ebenfalls gedacht hatte. Während Philippe Brot in Scheiben schnitt und Obst in mundgerechte Stücke zerkleinerte, redete er über die vom Frühling bis in den Winter nötigen Arbeiten im Weinberg. Und Vivienne gefiel es ungeheuer, seinen begeisterten Erzählungen zu lauschen. War er auf dem Weg zur Plantage noch irgendwelchen trüb wirkenden Gedanken nachgegangen und fast stumm neben oder vor Vivienne her geritten, unterbrach er sich jetzt nur, um sich ein Stück Obst in den Mund zu schieben oder von dem Brot zu kosten.
„Jetzt habt Ihr einen doch sehr umfänglichen Eindruck von allem, was wir hier auf Auziale tun.“ Philippe stand auf und ließ abermals Wasser in die Holzbecher fließen. „Und Ihr erfüllt die Aufgabe, die Euch Maman angetragen hat, auch ganz hervorragend.“
Vivienne lachte. „Meine Aufgabe? Eurer Mutter war sich gewiss, dass Agnès die Speisepläne zusammenstellt. Ich muss nur nicken und freundlich dabei lächeln. Um mich nicht ganz unnütz zu fühlen, helfe ich Christine im Garten und bei den Handarbeiten.“
Philippe schmunzelte.
„Auf dem Weg hierher ward Ihr sehr schweigsam. Ich hoffe, der Ausflug hält Euch nicht von wichtigen Angelegenheiten ab?“
Philippe legte die Stirn in Falten. „Es war unumgänglich, heute in den Weinberg zu reiten, um mir vom Fortschritt der Arbeiten an den Rebstöcken ein genaues Bild zu machen. Ich ging in Gedanken nur einige Positionen in den Büchern durch, über die ich mit Maman gesprochen habe. Ihr erinnert Euch?“
Vivienne nickte.
„Es tut mir leid, wenn ich Euch mit meiner Sprachlosigkeit langweilte“, fuhr er fort. „Das war sehr unhöflich von mir.“
„Oh, keineswegs. Entschuldigt bitte meine direkte Art der Frage.“
„Es ist keine Entschuldigung notwendig. Ich freue mich über Euer Interesse an unserem Leben und unserer Arbeit. Ihr schient nicht gelangweilt, als ich Euch im Detail die Aufzucht der Seidenraupen erklärte.“
„Ihr geht mit einer derart mitreißenden Begeisterung Eurer Arbeit nach, dass es eine Freude ist, Euch zuzuhören. Und Auziale ist wunderschön.“
„Es ehrt mich, dass Ihr Euch wohl bei uns fühlt.“
Ja, ich fühle mich hier sehr wohl, dachte sie.
Verlegen senkte Vivienne den Blick.
Auziale, 10. Juni 1850
Sie wälzte sich unruhig hin und her, zog die Bettdecke glatt oder starrte mit unter dem Kopf verschränkten Armen in die Dunkelheit des Zimmers. Sie fand keinen Schlaf. Seit ihrer Genesung waren vier Wochen vergangen. Und sie war noch immer auf Auziale.
Alle behandelten sie wie ein Familienmitglied und beteiligten sie an den täglichen Aufgaben.
Vivienne fühlte sich wohl – zu wohl.
Denn sie konnte nicht bleiben. Es gab keinen Grund zu bleiben. Sie gehörte nicht zu den Héraults, nicht zur Familie, nicht in ihr Leben, nicht auf dieses Gut. Sie gehörte nirgendwo hin. Sie war ganz allein auf der Welt.
Sie dachte an ihr ursprüngliches Vorhaben, in der Stadt ein neues Leben als Kindermädchen zu beginnen.
Es war Zeit zu gehen. Morgen früh würde sie den Héraults ihre Absicht kundtun. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Du dummes, kleines Mädchen, schalt sie sich und wischte sich die Tränen energisch von ihren Wangen. Du hast doch gewusst, dass Dein Aufenthalt hier endlich ist, dass Du nach Wiedererlangen