Im Land der drei Zypressen. Ute Christoph
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Vorsichtig bewegte ich mich weiter.
Ich ertastete die verborgenen Stufen mit Händen und Füßen und erreichte eine Öffnung in der Fassade, wo einst die Eingangstür gewesen sein mochte.
Andächtig verharrte ich auf der Stelle. Mein Herz schlug vor Aufregung so laut, dass ich es in den Ohren hörte. Meine Hände schwitzten.
Das musste einmal ein sehr großes Haus gewesen sein. Jetzt waren seine Wände bis auf die Überreste eingestürzt. Mehrere Steinhaufen lagen verstreut zwischen unkultiviert wachsenden Bäumen, Pflanzen und Gräsern.
Ich betrat die Ruine und drehte mich nach links. Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen, bis ich erneut gegen etwas stieß. Konnte das eine Wand gewesen sein? Ich kletterte auf das Hindernis und balancierte vorwärts. Ja, das schien eine Wand gewesen zu sein. Plötzlich war die Mauer zu Ende. Ich kletterte vorsichtig ins Gras. Etwa zwei Meter weiter setzten sich die Mauerreste fort. Zwei Meter! Hatte sich hier eine Tür befunden? Eine große Doppeltür vielleicht? Eine Flügeltür? Etwa drei Meter weiter bog die Mauer unter mir unvermittelt in einem spitzen 90-Grad-Winkel nach links.
Zwei weitere Male stieg ich ab und wieder auf.
Hinter dem ersten Zimmer lag ein zweiter Raum, mit einer Verbindungstür. Ich überlegte, welchen Zweck das zweite Loch in der Mauer gehabt haben könnte. Vielleicht hatte sich dort ein Kamin befunden? Waren dies ein Speiseraum und eine dahinter liegende Küche gewesen?
Weitere Zimmer konnte es auf dieser Seite nicht geben, die hintere Hauswand lag dafür zu nah.
Ich ging zur rechten Seite des Hauses. Es dauerte, bevor ich wieder auf kniehohe Überreste einer Wand stieß.
Warum war zwischen der linken Wand mit der großen Schwingtür, wie ich vermutete, und der rechten Wand so viel Platz?
Ich grübelte. Um in ein Obergeschoss zu kommen, musste es eine Treppe gegeben haben. Ja, das war es, eine breite, geschwungene Holztreppe, die viel Platz benötigte.
Ich schritt zwei weitere Räume ab.
Das Haupthaus eines großen, herrschaftlichen Anwesens, dachte ich. Dazu passend die Zufahrt mit den Rotbuchen.
Durch eine Öffnung in der hinteren, bis auf Hüfthöhe zerbröckelten Mauer verließ ich das Haupthaus und lief zwischen gelben Ginsterbüschen und blauen Bodendeckern über Bruchsteine und feuchtes Moos, bis ich auf die Überreste eines Brunnens stieß. Ich nahm einen Stein, ließ ihn in die Tiefe fallen und lauschte seinem harten Aufprall. Kein Wasser, der Brunnen war trocken.
Es gab weitere Ruinen, kleiner als das hinter mir liegende Haus. Waren das Ställe gewesen? Oder Wohnhäuser? Oder beides?
Gedankenverloren schlenderte ich zurück, vorbei an dem ausgetrockneten Brunnen im Garten, durch das Haupthaus und setzte mich in den Schatten der drei Zypressen.
Angele hatte belegte Brote, Obst und eine kleine Flasche Wasser in den Rucksack gepackt. Während ich genüsslich aß, betrachtete ich die Fassade oder das, was davon übrig geblieben war.
Ich wünschte mir, die Zeit zurückdrehen zu können, um ungesehen zu beobachten, was hier passiert war. Welche Menschen hatten hier gelebt und was hatten sie getan? Waren sie glücklich gewesen? Und warum waren sie gegangen? Warum hatten sie das Gut ihrem Schicksal überlassen? – dem Schicksal unaufhörlichen Verfalls und kalten Vergessens.
Ich massierte meinen schmerzenden Nacken und trank einen Schluck Wasser. Den Wunsch, als Beobachter in die Vergangenheit zu reisen, hatte ich schon als Kind gehabt. Einfach unbemerkt auf einer Stelle zu sitzen und zu betrachten, wie sich das hundert Jahre alte Haus, in dem ich aufwuchs, in einer rückwärtigen Zeitraffer veränderte: Wie waren die Menschen, die hier gelebt hatten? Welche Kleidung hatten sie getragen? Wie viele Kinder waren in diesem Haus geboren worden? Wie viele Menschen gestorben? Wie hatten sie sich gefühlt, nach einem Tag voller harter Arbeit? In ihren Küchen, in denen sie aßen, während über ihren Köpfen die Wäsche trocknete. Waren sie beim Abendbrot gesprächig oder müde und schweigsam gewesen? Was hatten sie nach dem Essen getan, in der Zeit, als es noch keine Fernseher gab und Radios und Bücher teuer waren? Hatten die Männer überlieferte Geschichten erzählt, während die Frauen Löcher in fadenscheinigen Strümpfen stopften? Welche baulichen Veränderungen hatte das Haus im Laufe des Jahrhunderts erlebt? Hatte es eine Einfahrt zum Hof gegeben, aus dem später der Garten wurde, in dem meine Schaukel und die alte Teppichstange gestanden hatten?
Das alles zu sehen, bis es irgendwann einfach noch nicht da wäre und ich nur das Stück bloße Erde, auf dem das Haus irgendwann errichtet würde, vor mir hätte.
Wie mochte dieses Gut ausgesehen haben? Wie viele Generationen von Mensch und Tier hatten hier zusammen gelebt?
Ich schloss die Augen: Die Rotbuchen säumten einen gepflegten, mit Kies bedeckten Weg, der zum zweigeschossigen Haupthaus führte. Links neben dem Eingang stand eine Holzbank, während den Platz rechts neben der Tür ein riesiger Kübel mit vom Wind sanft bewegtem, blühendem Lavendel schmückte.
Ich sah einen Mann, der Zypressen pflanzte. Im Garten hinter dem Haus schöpfte eine lachende Frau mit langen rauschenden Röcken Wasser aus dem Brunnen, während eine Andere Unkraut jätete. Es roch nach frisch gebackenem Brot. Da waren wiehernde Pferde und ein Mann, der freundlich Befehle rief. Dann ritt jemand fort.
Gedankenverloren packte ich die Überreste meines kleinen Picknicks in den Rucksack und kehrte zum Auto zurück.
Der viel versprechende Duft von Hühnchen mit Knoblauch und Rosmarin strömte durch das offene Fenster in mein Zimmer, wo ich bequem mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf dem Bett lag und mit offenen Augen von dem alten Anwesen mit den drei Zypressen träumte. Ich warf einen Blick auf die Uhr neben meinem Buch auf dem Nachttisch. Zeit für das Abendbrot. Ich rieb mit den Handballen über meine Augen, bis die Kontaktlinsen schmerzten, und verscheuchte damit gänzlich den Hauch von Schläfrigkeit, die sich nach meiner Rückkehr nach Olargues eingestellt hatte. Mit den Fingern kämmte ich mir durchs Haar, schlüpfte in die flachen Sandalen neben der Tür und erschien einige Augenblicke später in der Küche, in der Angele gerade den Backofen öffnete und mit selbst gehäkelten Topflappen die heiße Auflaufform zum Tisch balancierte. André schlurfte müde ins Zimmer.
„Dein Tag war sehr lang“, sagte Angele mitfühlend, „setz Dich, das Essen ist fertig.“
Während sie redete, stellte sie das tönerne Gefäß auf einen Untersetzer und nahm den Deckel ab. Angele strich ihrem Mann fürsorglich über den Arm. Dann entdeckte sie mich.
„Ah, unsere liebe Elke aus Deutschland – guten Abend.“
Ich ließ mich auf meinen Stuhl fallen und rückte ihn an den gemütlich gedeckten Tisch. Auch die obligatorische Flasche Rotwein und die Karaffe mit kühlem Quellwasser fehlten nicht.
„Hat Ihnen das Dorf gefallen?“ fragte Angele, während sie geschickt mit einer Geflügelschere das dampfende Hühnchen zerteilte.
„Es ist wirklich wunderschön“, antwortete ich und hob betonend die Augenbrauen. „Besonders begeistert war ich von den verlassenen Häusern. Darin konnte ich wunderbar herumstöbern, träumen und Geschichten erfinden.“
Ich tupfte mir sorgfältig mit der geblümten Papierserviette neben meinem Teller die Lippen und nahm einen kräftigen Schluck Wein. „Das Huhn schmeckt köstlich“,