Endlich einmal kurze Geschichten. Inga Kess

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Endlich einmal kurze Geschichten - Inga Kess

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wollte – einen kleinen Knubbel auf der Stirn des Neugeborenen. „Was werden die anderen Einhörner zu einem solchen Fohlen sagen?", fuhr ihr durch den Kopf. Erschüttert wollte sie sich von dem Fohlen abwenden, das so ganz anders als die anderen war. Als ob das Fohlen dies gespürt hätte, sah es seine Mutter mit großen, runden Augen an. Da erkannte die Einhornstute, dass sie ihr kleines Einhornfohlen lieben und nie verlassen würde.

      Die anderen Einhörner schnitten die junge Mutter, verbannten sie aus ihrer Gruppe und tuschelten untereinander: „Sie wird doch nicht …?" „Nein, das glaube ich nicht, dass sie …" „Aber weshalb ist denn ihr Fohlen braun?" „Ich habe sie doch neulich am Waldrand in der Nähe der Pferde gesehen ..."

      Der jungen Mutter taten solche Reden sehr weh, wusste sie doch, dass ihr Fohlen der Sohn eines besonders starken, schönen, weißen Einhornhengstes war.

      Das Fohlen wuchs heran, aber das Horn, das ihm die Kraft zum Überleben geben sollte, wuchs kaum, so dass seine Mutter es nicht gerne aus den Augen ließ.

      In den Vollmondnächten spielte der kleine, braune Hengst mit den Elfen und schaute den magischen Elfentänzen zu. Die Elfen wunderten sich zwar darüber, dass das kleine Einhorn nicht weiß war wie die anderen Einhörner, aber es störte sie nicht. Manchmal schwangen sie sich sogar auf seinen Rücken, während er in seinem Übermut im vollsten Galopp die Lichtung verließ.

      In regelmäßigen Abständen entwischte der kleine Kerl seiner Mutter, lief weg, um die Welt außerhalb des Waldes zu erkunden. Immer wieder brachte ihn seine Mutter in ihren Wald zurück und erklärte ihm, dass er noch zu jung sei für einen eigenen Wald. Gehorsam schien aber nicht die Stärke des Junghengstes zu sein.

      Und wieder tuschelten die Einhörner miteinander: „Siehst du, es zieht ihn immer wieder zu den Pferden, vielleicht ist es ja der Ruf des Blutes. So einer hat bei uns doch eigentlich nichts zu suchen!"

      Aber unser kleiner, brauner Einhornhengst erfuhr von alledem nichts. Trotz des Verbotes seiner Mutter büxte er in regelmäßigen Abständen immer wieder aus. An der Lichtung fand er schließlich Artgenossen, braun wie er, auch ihnen fehlte ein Horn. Die hatten noch nicht mal einen Knubbel wie er. Er freundete sich mit ihnen an, besuchte sie immer wieder. Seine Mutter war entsetzt und sagte, dass dies keine Einhörner, sondern Pferde seien. Sie verlangte, dass er sich von ihnen fernhalten sollte. Pferde seien kein passender Umgang für ein Einhorn. Aber wer hört schon auf seine Mutter.

      Einmal verfolgte er die Pferde in der Dunkelheit bis zu einem großen Haus, in dem sie verschwanden. Auch er wollte mit in das Haus, aber eine unsichtbare Macht hielt ihn zurück. Er konnte da nicht rein, es ging einfach nicht, so sehr er sich auch bemühte. Also wollte er wieder zurücklaufen.

      In dem Verlangen, den Pferden zu folgen, hatte er sich den Weg nicht gemerkt. So gelangte er nicht in den Wald, sondern in die Stadt. Er fühlte sich sehr unwohl zwischen den vielen großen, dunklen Häusern. Da erblickte er am Ende der Straße eine wunderschöne, grüne Wiese mit vielen weißen Tieren. Voller Freude galoppierte er auf sie zu. Im letzten Moment bemerkte er, dass sie nicht ein Horn, sondern zwei Hörner hatten, also keine Einhörner waren. Voller Angst galoppierte er die Wiese entlang, bekam die Kurve nicht, rutschte einen Abhang hinunter und landete auf dem Dach eines Kuhstalles, brach in das Dach ein und hing dort fest.

      „Nie wieder werde ich den Wald meiner Mutter verlassen, bevor ich stark genug bin, einen eigenen Wald zu haben", schwor sich der kleine Ausreißer. „Ich werde bei den Einhörnern bleiben und versuchen, ein ordentliches Einhorn zu werden, obwohl ich braun bin."

      Und plötzlich bemerkte er, wie es auf seiner Stirn fürchterlich brannte, wie ihn eine starke Kraft durchströmte. Er konnte es nicht glauben, ein Horn wuchs ihm, obwohl er braun war. Nun nahm er alle Kraft zusammen, spannte seine Muskulatur an, machte einen riesigen Satz und befreite sich aus dem Dach. Blitzartig erinnerte er sich an den Weg, den Weg zurück in den Wald, den Weg zu seinen Einhörnern, dorthin, wo er hingehörte.

      Zurückgekommen akzeptierten ihn nun die anderen Einhörner, nicht etwa, weil er weiß geworden wäre, nein, weil er nun die Kraft und den Mut eines Einhorns besaß.

       Einhörner, Kobolde und andere fantastische Wesen, Anthologie, net-verlag, Cobbel 2012 E-book: Das braune Einhorn, neobooks, 2014

      Najade auf dem Meeresgrund

      Najade zoffte mal wieder pausenlos mit ihren Eltern, oder besser gesagt: Najades Eltern zofften mit ihr. Immer hatten sie etwas an ihr auszusetzen. Nie waren sie zufrieden. Zu allem Ärger hatten sie auch noch Najades Aquarium mit der Begründung verkauft, sie solle in der Schule aufpassen und nicht stundenlang vor dem Aquarium herumlungern.

      Aber sie liebte es, vor dem Wasser zu sitzen und sich das Leben auf dem Meeresgrund vorzustellen, einzutauchen in das blaugrünlich schillernde Wasser. Sie träumte von Meerjungfrauen, vielleicht sogar davon, dem Wassermann zu begegnen, der sie hier aus der Enge herausreißen und sie in die Weite des Meeres locken würde.

      Sie hatte die Nase gestrichen voll, sozusagen null Bock, packte eine Reisetasche mit dem Nötigsten, schrieb einen Brief: Mich seht ihr niemals wieder, ich gehe zu W..

      Ihre Eltern, an das häufige Weglaufen ihres Kindes fast gewöhnt, fragten sich nur: Wer ist denn W-Punkt? Ist uns da etwas entgangen? Hat sie etwa einen Freund?

      Najade packte wie schon so oft die Reisetasche, hinterlegte sie in einem Schließfach am Bahnhof. Dann ging sie zum Strand, zu ihrem Meer, setzte sich auf einen Stein und träumte von einem freien, ungebundenen Leben mit den Fischen, die ja stumm waren und nie an ihr herumnörgeln würden, sehnte sich nach Meerjungfrauen oder Nixen, mit denen sie Freundschaft schließen könnte. Vielleicht begegnete ihr sogar der Wassermann, der sicherlich keineswegs schrecklich, sondern ähnlich wie bei Dornröschen, ein verkleideter Prinz war .

      Als sie so vor sich hin träumte, war es ihr, als hörte sie aus dem Rauschen des Meeres eine Stimme, die flüsterte: "Najade, du gehörst zu uns, komm doch zu uns!"

      Sie lauschte weiter. Da erklang es wieder: "Najaaade! Najaaade!" Und nun noch lauter im Chor: "Najaaade!"

      Noch völlig unentschlossen folgte sie dennoch dem Ruf, benetzte ihre Füße mit Wasser. Die Wellen rauschten: "Najade, kooomm! Koomm! Koomm!"Sie ging ins Wasser, weiter und weiter und weiter. Die Rufe wurden immer fröhlicher. Magisch wurde sie von der Tiefe angezogen, noch hatte sie den Boden unter den Füßen. Plötzlich zeigten sich im Wasser erst kleine, dann immer größer werdende Kreise, Wellen, die stärker und stärker wurden, um sie bald mit aller Wucht zu erreichen.

      Das Wasser gab einen Kopf frei, das Haupt eines Mannes mit langen Haaren. Eine Hand löste sich aus dem Wasser, der Mann bot ihr seine Hand an. Najade aber konnte die Hand, so sehr sie sich auch bemühte, nicht erreichen.

      Jäh tauchte aus dem Wasser ein Delfin auf, stupste sie derart, dass sie sich instinktiv an ihm festhielt. War das ein wunderschönes Gefühl, von einem Delfin getragen zu werden! Etwas wie Urvertrauen kam in ihr auf. Da war jemand, der ihr Halt gab. Gemeinsam schwammen der Delfin und Najade immer weiter ins Meer hinaus, bis der Delfin untertauchte und sie mitnahm.

      Was war das für eine wunderschöne Welt: Muscheln, kleine Seeigel, auch eine Schlange. Schlingpflanzen wanden sich um ihre Beine. Aber wo waren ihre Beine? Sie hatte nur noch ein Bein, und das war kein Bein, es war eine Schwanzflosse mit mächtigen Schuppen, die im Wasser silbrig glänzten. Um ihren Kopf hatten Ranken einen Kranz mit kleinen Blüten gewoben, der ihre langen Haare zusammenhielt..

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