Tom Winter und der weiße Hirsch. Nicole Wagner

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Tom Winter und der weiße Hirsch - Nicole Wagner

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einen Lichtzauber, der eine große wabernde Kugel in der Farbe ihres Gluthiens erzeugte, die neben ihnen herschwebte. (Der Zauberspruch lautete: „Anaphaino!“) Das ersparte ihm in Zukunft das Mitschleppen einer Taschenlampe. Peer fiel eine Formel, die Dinge entzweibrechen ließ, am leichtesten, er zerbrach Stifte, Kreidestücke, Stühle und sogar im Tisch hinterließ er einen faustgroßen Sprung. Bei Tom dagegen tat sich gar nichts. Auch wenn er sich sicher war, die Worte richtig auszusprechen („Diorusso pagis!“) und die Bewegung richtig auszuführen, blieb sein Spielzeugauto, das er zum Üben hernahm, ganz.

      „Das liegt an deiner inneren Einstellung“, erklärte Griselbart ihm. „Du machst Dinge nicht gern kaputt, sondern schaust lieber zu, dass sie ganz werden. Der Reparierzauber dürfte dir leicht fallen, aber der ist fortgeschritten, genau wie der heutige Tag, und ich würde sagen, für heute belassen wir es dabei.“

      Tatsächlich war die Sonne bereits untergegangen und die ersten Schatten der Abenddämmerung senkten sich über Glöckerlstadt. Draußen hörte man ein paar Raben krächzen, ansonsten war alles still. Dann konnte Tom noch etwas ausmachen, Rufe und Laute, wie man sie im Kampf äußerte, ein Ächzen, das Klacken von aufeinanderschlagenden Gliedmaßen, Schreie. Er und Peer stürzten zum Fenster; einige Dutzend Meter entfernt, neben dem See und hinter dem chinesischen Pavillon hatte sich eine Gruppe von Leuten versammelt. Sie standen auf dem quadratischen Sandplatz, der, wie Tom jetzt klar wurde, kein Volleybaldfeld, sondern ein Übungsfeld für Kampfpraktiken war. Jungen und Mädchen in ihrem Alter traten nacheinander vor und kämpften gegen die Person in der Mitte, die ihnen, was die Leistung betraf, eindeutig überlegen war. Tom kannte nur eine Person, die lange rotbraune Haare hatte, die stets zu einem Pferdeschwanz gebunden waren; bei jeder Bewegung und jeder Drehung tanzte er um ihren Körper, als würde er eine ganz eigene Choreographie aufführen. Er hatte auch noch nie jemanden gesehen, der sich so geschmeidig und fließend bewegen konnte und gleichzeitig so viel Kraft in die Tritte und Schläge steckte, da war kein einziger Fehler in ihrer Vorstellung.

      „Ist das-?“, fragte Peer.

      Tom nickte nur. Ja, das war Charlie.

      „Ich wusste nicht, dass sie Karate kann.“

      „Ich auch nicht“, sagte Tom.

      „Ja, sie ist der einzige Schwarzgürtel mit dreizehn Jahren im ganzen Landkreis“, sagte Griselbart mit unüberhörbarem Stolz in der Stimme.

      „Schwarzgürtel?“, wiederholte Tom entgeistert.

      „Ihr Vater hat sehr früh begonnen sie selbst zu trainieren. Er war schon immer höchst besorgt um ihre Sicherheit. Kein Wunder nach dem, was mit ihrer Mutter passiert ist.“

      Tom wusste, dass Charlies Mutter wie seine eigene nicht mehr am Leben war, wusste aber nicht, was genau mit ihr geschehen war und fragte auch jetzt nicht.

      „Geht hinunter, schaut zu!“, forderte der Meister sie auf. „Karatestunden stehen bald auch auf eurem Stundenplan, es gibt kein besseres Mittel sich selbst zu verteidigen.“

      Tom und Peer dankten ihm für den Unterricht und wünschten ihm gute Nacht. Als Tom die Tür schloss, sah er, dass Griselbart die Hand ausstreckte und Karak auf seinem Arm landete. Er bezweifelte, dass der alte Zauberer einen sorgenfreien Abend verbringen würde - dass er überhaupt irgendeinen sorgenfreien Abend in den letzten Wochen gehabt hatte.

      Die beiden Jungen spurteten die lange Treppe hinunter und liefen durchs Wohnzimmer über die Veranda hinaus in den Garten. Als sie zu der Gruppe stießen, folgten nur noch wenige Durchgänge. Aus den Schlag- und Trittabfolgen wurde Tom nur wenig schlau, auch wenn er sich bemühte zu folgen. Er konnte nicht mal genau sagen, wer einen Treffer landete und wer abblockte, doch es ging fast immer gleich aus, wenn Charlie es schaffte, hinter ihren Gegner zu treten und ihn mit einem Wurf zu Boden beförderte. Als die Kirchturmuhr acht Uhr schlug, war der Unterricht beendet. Die Schüler verneigten sich vor Charlie und sie tat es ihnen gleich. Tom kannte ein paar von ihnen, er kannte sie aus der Schule und zwei der Jungen gingen sogar in seine Klasse. Zauberer, von denen er es nie für möglich gehalten hätte.

      Als die Gruppe sich langsam auflöste, wandte Charlie sich ihnen grinsend zu.

      „Jetzt kennt ihr bald alle meine Geheimnisse“, sagte sie. Wie üblich trug sie einen schwarzen Rollkragenpullover und dunkle Hosen, die einen leichten Pulverfilm aufwiesen von den wenigen Malen, in denen sie im Sand gelandet war.

      „Das ist unglaublich!“, rief Peer. „All die Nachmittage, die wir zusammen rumgehangen sind, und nie hast du auch nur angedeutet, dass du Karate kannst!“

      Charlie zuckte die Schultern. „Es ist besser, wenn man mit seinen Stärken nicht hausiert. Dann hat man das Überraschungsmoment auf seiner Seite, weißt du.“

      Tom beobachtete das schwarz glühende Licht über ihrem Herzen, das sich in der hereinbrechenden Dunkelheit zusehends abzeichnete. Er fragte sich, was es damit auf sich hatte.

      „Soll ich euch noch etwas zeigen?“, fragte Charlie. „Früher oder später müsst ihr sowieso damit anfangen, dann können wir es auch jetzt gleich machen. Ein paar elementare Stellungen zu Beginn.“

      Peer blickte sich erschrocken nach der Kirchturmuhr um. „Verdammt, ich hab meinen Eltern gesagt, ich bin um acht zum Essen zuhause! Ein ander Mal, Charlie!“ Er spurtete davon.

      „Glaubst du, das war eine Ausrede?“, grinste Charlie Tom an.

      „Ich glaub nicht. Seine Eltern merken langsam, dass was im Busch ist.“

      „Und Reginald?“

      Sie sprachen eine Weile über Toms verrückten Vater und wie es ihm mit den ersten Magiestunden ergangen war. Charlie ließ ihn die verschiedenen Zauber vormachen, berichtigte seine Handbewegungen und seine Zauberformeln. Sie schien zufrieden mit seinen Fortschritten. Dann zeigte sie ihm tatsächlich noch ein wenig Karate, aber weiter als bis zur gebeugten-Knie-Stellung und ein paar Faustdrehungen kamen sie nicht, weil Tom vor Müdigkeit zu taumeln begann.

      „Ich muss auch heim“, sagte Charlie, nachdem sie ihn prüfend angeschaut hatte. „Sonst schickt mein Dad einen ganzen Suchtrupp los, inklusive Spürhunde.“

      Tom grinste. Er unterdrückte ein weiteres Gähnen. „Bist du morgen bei Griselbart? Dann sehen wir uns da.“

      „Klar“, sagte Charlie und lächelte.

      Tom fand seinen Vater – wie könnte es anders sein? – im Keller, über eine seltsame Apparatur geneigt, die, wie er sagte, magische Bewegungen wahrnehmen konnte. Im Moment zeigte sie pfeilgerade auf Tom, was Reginald als Fehler deutete.

      „Da muss ein Fehler bei der Kalibrierung vorliegen“, schimpfte er und hantierte an den vielen Rädchen herum. „Bis gerade zeigte es auf Oswald Griselbarts Haus und schlug so heftig aus, dass ich dachte, der Zeiger springt aus dem Gehäuse.“

      „Dad, ich muss dir was sagen“, begann Tom.

      „Die Elektroden scheinen keinem natürlichen Gesetz mehr zu gehorchen … “, schimpfte Reginald.

      „Dad, hör mir mal zu.“

      Sein Vater schaute von der Apparatur auf, verunsichert ob des ernsten Tonfalls.

      „Wir ähm … wir waren heute wieder bei Meister Griselbart und wir ähm …“ Es war nicht leicht, alles in Worte zu fassen, was geschehen war. Schon beim Versuch begann Toms Kopf wehzutun. Aber Reginald

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