Dem Leben dienen. Peter Spönlein
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Das „Gottesreich“ kommt nicht von selbst am „Ende der Zeit“
Albert Schweitzer sieht nur den einen realistischen Weg für uns Menschen: Daß wir in allen Lebensbereichen dem Leben von Mensch und Schöpfung dienen im Geist der „Ehrfurcht vor dem Leben“. Nur so kann das „Reich Gottes“ auf der Erde Wirklichkeit werden. Das frühe Christentum hat die Endzeit und den Anbruch des Gottesreiches als nahe bevorstehend erwartet. Wir wissen heute, daß diese Erwartung aus einer zeitbedingten, bereits vorchristlichen jüdischen Weltanschauung zu verstehen ist. In seinem Werk Reich Gottes und Christentum (1951) schreibt Albert Schweitzer: „Die Zeit, in der wir leben, ruft uns zu neuem Glauben an das Reich Gottes auf. Nicht mehr können wir wie frühere Geschlechter in dem Glauben an das am Ende der Zeiten von selbst kommende Reich Gottes verbleiben. Für die Menschheit, wie sie heute ist, handelt es sich darum, ob sie dazu kommt, das Reich Gottes verwirklichen zu wollen oder unterzugehen. Aus der Not heraus, in der wir uns befinden, müssen wir an seine Verwirklichung glauben und mit ihr ernst machen.“
Das kirchliche Christentum hält noch immer an dem am Ende der Zeit von selbst kommenden Gottesreich fest, nimmt aber dadurch dem christlichen Glauben seine erneuernde Kraft, „Salz der Erde“ zu sein. „Weil der Katholizismus und der Protestantismus der Reformatoren den Glauben an das Reich Gottes und das Wollen desselben nicht in ihrer elementaren Kraft in sich enthalten, vermögen sie nicht umgestaltend auf die Zustände ihrer Zeit zu wirken“, so schreibt Albert Schweitzer in seinem Werk über die Mystik des Apostels Paulus (1930). Die Quelle der Kraft, die zur Umgestaltung und Erneuerung notwendig ist, sieht Albert Schweitzer allerdings nicht in einem gesellschaftlichen oder politischen Aktionismus. Es geht vielmehr zunächst um die persönliche Übung der Mystik und Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“. Sie besteht in der Hingabe an Gott, um seinen Willen vernehmen und tun zu können, und in dem praktischen Dienst am Leben von Mensch und Schöpfung im persönlichen Umfeld. Das „Reich Gottes“ muß zunächst einmal in uns selbst einkehren und hier seine Herrschaft aufrichten, bevor wir es in die Welt bringen können. Was Albert Schweitzer in seinem Werk Die Mystik des Apostels Paulus schreibt, erscheint mir als eine Magna Charta für unser heutiges Christentum: „Wohl können wir als solche, die aus der eschatologischen Weltanschauung herausgetreten sind, nicht anders, als die Umgestaltung der Verhältnisse der Menschheit im Sinne des Reiches Gottes wollen und daran arbeiten. Der Geist Gottes, der aus der Nichterfüllung der eschatologischen Erwartung des Reiches Gottes zu uns redet, gebietet es uns. Urchristlich aber muß unser Glaube an das Reich Gottes darin bleiben, daß wir seine Verwirklichung nicht von zweckmäßigen und organisatorischen Maßnahmen, sondern von einem Mächtigwerden des Geistes Gottes erwarten. So wissen wir auch, daß die aus innerer Notwendigkeit geschehende Erweisung des Geistes des Reiches Gottes, dessen wir im Sterben und Auferstehen mit Christus teilhaftig werden, die Reich-Gottes-Arbeit ist, ohne die alle andere umsonst bleibt. ... Immer haben wir des unerbittlichen Gesetzes eingedenk zu bleiben, daß wir nur soviel Reich Gottes in die Welt bringen können, als wir in uns tragen.“
Der zentrale Inhalt des Christentums ist Mystik und Ethik
Diese Notwendigkeit unterstreicht noch einmal, wie untrennbar die beiden Pole der Spiritualität zusammengehören, die Hingabe an Gott und der praktische Dienst am Leben von Mensch und Schöpfung, die in der Mystik und Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“ enthalten sind: „Die Ethik muß aus der Mystik kommen wollen. Die Mystik ihrerseits darf niemals meinen, um ihrer selbst willen da zu sein. Sie ist nicht die Blume, sondern nur der Kelch einer Blume. Die Blume ist die Ethik. Mystik, die für sich ist, ist das Salz, das dumm wird.“ Nur von einer Welt und Leben bejahenden Mystik kann eine ethische Gestaltungskraft ausgehen, die zur Erneuerung menschlicher Kultur führt: „Die Mystik hat ein Bewußtsein davon, daß das geistige Einswerden mit dem unendlichen Sein in einer geistigen Tat des Menschen zustande kommt. ... Weil in der Mystik die geistige Tat unmittelbar und ausschließlich auf das Einswerden mit dem unendlichen Sein gerichtet ist, ist sie die tiefste Art von Religion und die höchste Philosophie. Das große Problem ist die Mystik der ethischen Lebens- und Weltbejahung, in der der Mensch das geistige Einswerden mit dem unendlichen Sein nicht nur als Unterwerfung unter es, sondern auch als Hingebung an es in ethischem Wirken erlebt.“
Das „Vaterunser“ als christliches Glaubenbekenntnis
Eine die Schöpfung, das Leben und die menschliche Kulturgestaltung verneinende Mystik der Vergangenheit, sei es in östlichen Religionen oder im westlichen Christentum, das durchaus eine „Verachtung der Welt“ kennt, muß überwunden werden, damit die mystische Vereinigung des Menschen mit dem unendlichen Sein in einen kulturschöpferischen Prozeß einmünden kann. Menschen, die in christlicher Spiritualität und in der „Ehrfurcht vor dem Leben“ den Sinn ihres Lebens sehen, ist die Bitte des Vaterunsers „Dein Reich komme“ das zentrale Herzensanliegen, das nach Verwirklichung in der Gegenwart drängt und nicht als Hoffnung auf einen „Jüngsten Tag“ vertagt werden kann.
Albert Schweitzer hat deshalb das Vaterunser (Mt 6.7-15) den „Polarstern des christlichen Glaubens“ genannt und darin das wesentliche und umfassende christliche Glaubensbekenntnis gesehen: „Das Bekenntnis, in dem die Christen aller Konfessionen sich zusammenfinden können? Jesus hat es verfaßt in Form eines Gebetes, das wir alle gemeinsam haben: das Vaterunser. Hier ist ein Bekenntnis, das von sich aus alles Wesentliche enthält. ... Das Erwarten des Reiches muß für uns zum Wollen des Verwirklichens desselben in dieser Welt werden. Gerade dadurch werden wir Christen im ursprünglichen Sinn. ... Man wirft dem neuzeitlichen Glauben vor, daß er zu sehr Diesseitsreligion sei. Es gibt aber nichts Diesseitigeres als das Vaterunser. Alle seine Bitten gehen ja auf das Reich Gottes, das auf Erden Gestalt gewinnen soll.“
Natur und Schöpfung als „göttliches Milieu“
Hier begegnen sich die geistigen Wege des mystischen Ethikers Albert Schweitzer und des Mystikers der Schöpfung Pierre Teilhard de Chardin: Beide sind prophetische Wegweiser in unserer Epoche eines menschheitsgeschichtlichen Wandels. Und beide sind glühende Zeugen für ein kulturschöpferisches Christentum, das die vielfältige Problematik der Welt nicht nur passiv erduldet, sondern aktiv und kreativ an praktischen Lösungen arbeitet aus dem Geist des Gottesreiches, das auf allseitige Ergänzung und Gemeinschaft allen Lebens ausgerichtet ist. Für den Jesuitenpater und Naturforscher Pierre Teilhard de Chardin (1881-1955) geht es darum, daß wir Menschen uns an die in der Evolution der Schöpfung bereits wirksame göttliche Energie anschließen und mit ihr auf eine zunehmende Einigung allen Lebens hinwirken. Seitdem der Mensch in der Evolution des Lebens auftritt, fällt ihm die Verantwortung zu für diesen Fortschritt allen Lebens zur Einheit. Die große geistige Tat des Jesuitenpaters liegt darin, daß er die Schöpfung und die Natur nicht mehr als totes oder belebtes Material oder als einen biochemischen Mechanismus sieht, wie es unsere moderne Naturwissenschaft zu tun pflegt. Er versteht sie vielmehr als ein „göttliches Milieu“ , als einen Ort der Gegenwart und des Wirkens Gottes, einen Ort der „Diaphanie“, des „Durchscheinens“ Gottes. Teilhard de Chardin legt ein glühendes Bekenntnis dafür ab, daß „die Transparenz Gottes im Universum das große Geheimnis des Christentums sei.“ Anders ausgedrückt: Der innerste lebendige Kern der Schöpfung und aller Geschöpfe, einschließlich des Menschen, ist Gott selbst. Pierre Teilhard de Chardin spricht vom „Geist der Materie“ und vom „Herzen der Materie“, er spricht