Dem Leben dienen. Peter Spönlein
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Für Albert Schweitzer ist christliche Religion etwas denkbar Einfaches: Sie besteht darin, Gott zu erfahren als den unendlichen Willen zum Leben und zur Liebe und diesen göttlichen Willen zugleich als das innerste Wesen des Menschen zu erkennen und in allen Situationen des Lebens gegenüber den Mitmenschen und allen Geschöpfen der Natur zu verwirklichen. Was Jesus unter Religion versteht, faßt Albert Schweitzer folgendermaßen zusammen: „Er hat Religion und Menschlichkeit so zusammengeschweißt, daß es keine Religion mehr gibt, daß sie für ihn nicht existiert ohne die wahre Menschlichkeit, und daß die Aufgaben der wahren Menschlichkeit nicht gehört werden können ohne Religion.“
Philosoph, Theologe, Musiker und Arzt
Albert Schweitzer war Doktor der Philosophie und der Theologie und Privatdozent an der Fakultät für evangelische Theologie in Straßburg, Vikar in der Pfarrei St. Nicolai und Leiter des evangelischen Studienstiftes St. Thomas, wo er evangelische Pfarrer ausbildete. Und er war bereits ein bekannter Musiker vor allem als Bach-Interpret. Obwohl er in allen diesen Tätigkeiten sehr erfolgreich war, entschloß er sich dazu, ab seinem dreißigsten Lebensjahr in einem einfachen menschlichen Dienst in der Nachfolge Jesu zu leben. Er studierte Medizin und ging im Jahr 1913 als Arzt gemeinsam mit seiner Frau nach Lambarene im zentralafrikanischen Gabun, wo die Pariser Missionsgesellschaft eine Missionsstation unterhielt. Mit seinem Entschluß, als Arzt nach Afrika zu gehen, erntete er in seinem evangelischen Umfeld zu Hause nur Kopfschütteln. Verständnis brachte ihm allein seine Frau Helene Bresslau entgegen, die aus einer jüdischen Familie stammte.
Erneuerer und Reformator des Christentums im 20. Jh.
In seinem elementaren Verständnis christlicher Religion und christlichen Lebens wurde Albert Schweitzer mit Franz von Assisi (1182- 1226) verglichen, der in allen Geschöpfen seine Brüder und Schwestern sah und ohne kirchliche Ämter und Würden nur in der Nachfolge Jesu leben und den Menschen in ihrer Not beistehen wollte. In dieser Rückführung und Konzentration der christlichen Religion auf ihren wesentlichen Kern kann Albert Schweitzer als eine Prophetengestalt und als ein Erneuerer und Reformator christlicher Religion und Ethik im 20. Jahrhundert gelten. „Ehrfurcht vor dem Leben“ bedeutet für Albert Schweitzer umfassende Verantwortlichkeit. Im Jahr 1919 sagt er in einer Predigt: „Leben heißt für uns, alles, was sich mit der Kreatur und mit dem Menschen um uns herum ereignet, selbst Anteil nehmend mitzuerleben, die Sorge in Sorge mitempfinden, die Angst als unsere Angst mitmachen, mithelfen, wo eine Anstrengung gemacht wird auf Erhaltung oder auf Steigerung und Vervollkommnung des Lebens. Miterleben heißt, sich für alles, was sich in unserem Bereich abspielt, verantwortlich fühlen.“
Ich möchte hier zunächst noch näher auf den etwas fremdartigen und sperrigen Begriff der „Ehrfurcht vor dem Leben“ eingehen. Albert Schweitzer war sich selbst durchaus bewußt, daß dieser Begriff etwas altväterlich klingt. Dennoch blieb er dabei, da er keinen besseren oder moderneren Begriff finden konnte, der den geistigen Inhalt seiner Ethik auszudrücken vermochte. Die beiden Elemente „Ehre“ und „Furcht“ sind auf den ersten Blick durchaus dazu angetan, beim heutigen Leser Mißbehagen auszulösen und eine Assoziation mit etwas Positivem gerade zu blockieren. Aber Albert Schweitzer will mit dem Begriff der „Ehrfurcht vor dem Leben“ zunächst zum Ausdruck bringen, daß es in seiner elementaren Ethik um eine unbedingte wertschätzende Achtung geht, die der Mensch allem Lebendigen und der ganzen Schöpfung schuldet. Diese Achtung und Liebe gegenüber allem Leben, sowohl gegenüber dem anderen Menschen als auch gegenüber Tier und Pflanze, ist dem Menschen mit fragloser Selbstverständlichkeit geboten, weil alles Leben so wie er selbst einen Willen zum Leben in sich hat, über den er als Mensch nicht beliebig verfügen kann. Denn dieser Wille zum Leben kommt aus dem geheimnisvollen göttlichen Urgrund, aus dem der Mensch selbst ebenso wie alles andere Leben hervorgeht. Als verschiedene Erscheinungen dieses einen göttlichen Willens zum Leben sind alle Lebewesen gleich: Sie alle sind Geschöpfe, und deshalb schuldet der Mensch ihnen allen die gleiche Achtung wie seinem eigenen Leben.
Das Geheimnis des Heiligen in der Schöpfung
Von hier aus erhalten die beiden Elemente „Ehre“ und „Furcht“ durchaus einen Sinn. Der evangelische Theologe und Religionswissenschaftler Rudolf Otto (1869-1937) kann uns einen neuen Zugang zu dem Begriff Albert Schweitzers von der „Ehrfurcht vor dem Leben“ eröffnen. Er hat darauf aufmerksam gemacht, daß das Numinose, das Geheimnis des Heiligen, das in der Schöpfung aufleuchtet, vom Menschen auf zwei Weisen erfahren wird. Einerseits wird das Heilige erlebt als mysterium fascinosum, als ein Geheimnis, das erstaunen läßt, fasziniert und begeistert etwa durch die Schönheit, die überaus komplexe und sinnvolle Konstruktion und Gestaltung der Lebewesen. Sofern das Geheimnis des Heiligen in der Schöpfung in uns Staunen, Freude und Bewunderung auslöst, bringen wir ihm „Ehre“ entgegen und „verehren“ es. Andererseits wird das Heilige in der Schöpfung aber auch als ein mysterium tremendum erfahren, als ein Geheimnis, das erschauern läßt. Denn dieses Mysterium des Heiligen in der Schöpfung reicht in eine Dimension hinein, welche die sichtbare Welt unendlich übersteigt. Mit dieser Dimension sind wir nicht vertraut, wir berühren hier das Ganz-Andere, die fremdartige unsichtbare Welt des göttlichen Ursprungs, angesichts dessen der Mensch seine eigene Dimension als Geschöpf erfährt, als ein endliches, ohnmächtiges und sterbliches Lebewesen, das nicht selbst Herr über das Leben ist.
In unserer modernen technokratischen Zivilisation hat diese zweiseitige Erfahrung des Numinosen, des Heiligen in der Schöpfung, durch ein rationalistisch und materialistisch verengtes Weltbild praktisch keinen Platz mehr. Sie gilt als veraltet und wird als naiv und sentimental belächelt. Aber die gegenwärtige ökologische Krise globalen Ausmaßes belehrt uns eines anderen: Das Weltbild technokratischer Allmacht hat die Natur entwürdigt zu einem materiellen Rohstofflager für eigennützige ökonomische Zwecke. Dieses Weltbild erweist sich heute als eine dreiste Überheblichkeit und ein verhängnisvoller Irrtum, der die Menschheit und alles Leben auf dieser Erde an den Rand der Vernichtung bringt. Insofern lehrt uns heute die Natur durchaus das „Fürchten“, wenn wir glaubten, wir könnten sie willkürlich meistern. Wir entdecken heute allmählich, daß die Schöpfung weitaus intelligenter ist als der Mensch und daß wir allen Grund haben, die Natur neu zu entdecken als eine Erscheinung des Heiligen und Göttlichen und sie auf eine neue Weise zu „ehren“ und die Macht, die sich in ihr ausspricht, durchaus zu „fürchten“, sofern wir nicht in Einklang mit ihr leben.
Die gegenwärtige Aktualität der „Ehrfurcht vor dem Leben“
So wird deutlich, welche Aktualität der altmodisch anmutende Begriff Albert Schweitzers von der „Ehrfurcht vor dem Leben“ gerade heute für uns hat: Ohne unser ganzes Menschsein in allen Bereichen auf die Verwirklichung dieser „Ehrfurcht vor dem Leben“ zu konzentrieren, wird es keinen wirklichen Fortschritt mehr geben können, und es wird keine Erneuerung menschlicher Kultur möglich sein, die den gegenwärtigen Abgrund einer globalen Lebenskrise zu überwinden vermag und dem Ziel der Menschheitsgeschichte einen Schritt näherkommt. Dieses Ziel wird in der Sprache religiöser Tradition „Gottesreich“ genannt. Es besteht darin, daß die Menschen untereinander und mit der ganzen Schöpfung in Frieden und Freundschaft leben.
Diese Vision des Gottesreiches gehört wohl zum Wesen des Menschen; ohne diese Vision ist der ungeheuere Aufwand an Energie wohl nicht zu erklären, den die Menschheit seit Jahrtausenden in ihre kulturelle Entwicklung investiert. Auf dieses Ziel der Menschheitsgeschichte hat Albert Schweitzer in