Das unglaublich unglaubwürdige Leben des Hannemann. Hans-Dieter Heun
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Eine Mülltonne war in der Nachkriegszeit im Gegensatz zu dem heutigen Plastikmist noch etwas eisern Bodenständiges. Eine runde Walze aus solidem Stahlblech schloss ein Deckel mit Griffholm ab, der sich in der Phantasie des Knaben zum Sattel eines Grauschimmels wandelte. Zumal die Haltegriffe beiderseits der Tonne den nackten Füßen wunderbar als Steigeisen zu dienen vermochten. Wichtig war ebenso der eiserne Ring, welcher zum Schutz und zur Verstärkung um den Rand des Tonnenbodens angeschraubt war, aber ebenso willig das wilde Wippen eines zehnjährigen Cowboys aus München ertrug.
Ja, München. Das Wirtschaftswunder erblühte, der Familie ging es vermeintlich gut. Sie bewohnte eine große Wohnung in einem mächtig prächtigen Block, der – massiv in der Vorkriegszeit erbaut – allen Zerstörungsversuchen durch Bomben und Granaten der Befreier widerstanden hatte, weil eben diese Bomben und Granaten andere Anwesen in dem Stadtteil weggeputzt hatten. Äußerst rührige Trümmerfrauen hatten jedoch aufgeräumt, und damals noch fleißige Maurer längst wieder hässliche Neubauten geschaffen. Sein Wohnblock jedoch blieb ein fast barocker Altbau und war den Bewohnern freundlich gesinnt. Er besaß einen großen Innenhof mit Wäscheständer, Teppichklopfstangen und Kinderspielplatz auf grüner Wiese, umgeben von einem Rundweg, auf dem sich stundenlang ungefährdet radeln ließ. Im Uhrzeigersinn, wenn Hannemann nicht gerade lieber bei den Mülltonnen zugange war.
Am Anfang seiner Reitübungen schaukelte Hannemann die Eisentonne vor und zurück, hin und her, gewann jedoch kaum ein paar Zentimeter Raum. Übung machte aber den Reiter, sehr bald brachte er es durch starkes Anpressen seiner Oberschenkel und rechtskreisende Bewegungen seines Unterleibes zu einer derart meisterlichen Beherrschung der Fliehkräfte, dass er seinen Lieblingsschimmel in wilden Kreisen um die übrigen Tonnen wirbeln lassen konnte. Erst beidhändig, dann einhändig und schließlich sogar freihändig. Ideale Voraussetzung für die besten Ausritte war, wenn die Füllmenge des Unrats etwa ein Drittel des Tonnenbauchs betrug, wovon sich der Knabe stets durch einen raschen Blick unter den Deckel überzeugte.
Bei einem dieser herrlichen, Freiheit versprechenden Tonnenritte verfolgten ihn aus dem Fenster ihres Kinderzimmers die spöttisch neugierigen, aber auch verlangenden Augen von Ingrid. Sie entdeckte in ihm den Mann, wollte, dass er sie dieses Reiten lehrte. Und Hannemann war nur zu willig, sie in seine Welt einzulassen. Doch obwohl er ihr seine beste Tonne – kenntlich an dem durch seine Lederhose dunkel polierten Satteldeckel – großzügig überließ, war sie zu ungeduldig, setzte ihre Hüften nicht in den richtigen Schwung.
Ingrid verstand, typisch Weiber, nicht mal ein Stückchen der notwendigen Drehtechnik. „Ich schaffe das nicht. Wie machst du das bloß?“
„Es ist ganz einfach, du brauchst nur den Holm fest zu halten, mit deinen Beinen die Tonne zu umklammern, dann erst schaukeln und danach die Hüften drehen.“ Ingrid schaffte es wieder nicht, ihre Tonne stand wie festgenagelt. Da fragte er, um sie ja an seiner Seite zu halten: „Soll ich dir vielleicht lieber ein Märchen erzählen?“
Sie machte große neugierige Augen: „Kannst du das?“
Hannemann nickte: „Ganz bestimmt, denn wenn ich einmal groß bin, möchte ich ein berühmter Märchenerzähler werden.“ Damals konnte er nicht wissen, noch nicht, dass sein Schicksal diesem Wunsch folgen würde und ihn Koch werden ließ.
Ingrid und Hannemann – wie schön das klang – saßen still auf ihren Grauschimmeln. Er begann: „Du musst wissen, kleine Ingrid“, er kam sich bereits groß vor, fühlte sich voller Macht, „ich bin nicht nur ein Junge. Ich habe und hatte viele Gestalten, einmal war ich sogar ein Schmetterling. Ich lebte mit vielen Geschwisterchen fröhlich und ausgelassen bei einer mächtigen Trauerweide an einem kleinen Bach, und wir faulenzten alle Tage. Da erschien aus dunklem Nichts der schwarze Zauberer, der über die Nacht, den Donner und den Sturm gebietet. Der Schwarze aber fing uns in seinem klebrigen Zaubernetz, fesselte uns mit Seidenbändern, sodass wir uns nicht mehr rühren konnten. Wir waren zu Raupen geworden. Da hängte der Zauberer uns zwischen die Zweige der riesigen Weide.
Der böse Magier sammelte uns, um seine Amseln zu füttern. Die wollte er nämlich selber fressen, wenn sie genügend fett geworden wären und, knusprig gebraten, richtig lecker nach jungen Schmetterlingen schmecken würden. Jedenfalls konnte ich nichts sehen in meinem seidenen Mantel, aber ich hörte die Amseln herbeifliegen und meine Geschwister verschlingen. Du kannst dir vorstellen, meine Angst wurde übergroß.
Doch ich war stark, wollte länger leben und so kam ich auf eine kluge List. Ich lernte die Sprachen der anderen Tiere, welche aus diesen oder jenen geschäftigen Gründen meine Weide besuchten. Ich lernte das Krähen des stolzen Hahns, das Bellen des Hofhundes und das Grunzen und Quieken von Mutter Schwein, wenn sie ihre lehmigen Borsten an der rauen Rinde des Baumes rieb. Und als ich wieder die hungrigen Amseln heranfliegen hörte, schrie ich in höchster Not auf perfektem Schweinisch: „Oink, oink, wo sind nur die Amseleier, wo sind nur die Amseleier?“
Die dummen Vögel flogen sogleich voller Angst zu ihren Nestern, hoch in den Ästen der Bäume gebaut, und sorgten für ihre Brut. Doch sehr bald erkannten sie, dass Schweine gar nicht fliegen können, also keine Gefahr für Amseleier sind, und sie bekamen rasch wieder großen Appetit auf junge gewickelte Schmetterlinge. Mittlerweile sprach ich jedoch ebenfalls gut Katzisch, von der dicken Hauskatze aufgeschnappt, die so gerne nahe der Wurzeln der Weide schnurrte und nachts nach dem schwarzen Kater maunzte. Also schrie ich erneut die gefräßigen Flieger an: „Miauu, miauu, miooh, ich habe schrecklichen Hunger auf Amseln! Ich will auf der Stelle frische Amseln fressen, schöne fette Amseln!“
Erneut bekamen die Vögel fürchterliche Angst und flogen in Scharen davon. Durch mein lautes Katzengeschrei hatte ich aber die silberne Weidenelfe aus ihrem Sonnenschlaf geweckt, und sie lachte laut über mein erbärmliches Katzisch: „Ja, welcher Wicht plärrt denn da so in der ruhigen Mittagsstunde?“
Voller Ehrfurcht antwortete ich zitternd: „Ich bin es, ein kleiner Schmetterlingspupperich, der nicht von den Amseln gefressen werden will.“
Die Elfe hatte Mitleid mit mir und hüllte mich in feinen grünen Wutstaub. Die grüne Wut ließ mich sogleich wachsen, der Staub gab mir zornige Kraft, und ich rüttelte, schüttelte an meinen seidenen Schnüren. Ich riss mit meinen Zähnen an den Fesseln, endlich zerbiss ich die Stränge, fraß mir ein Lebensloch, quetschte mich durch und flog in das Licht.
Ich war der schönste Schmetterling auf der ganzen weiten Wiese geworden, besaß rote Fühler und prächtig gelbe Flügel, bunt getupft mit leuchtenden Kreisen. Und ich genoss die warmen Stunden unter der ewigen Sonne mit hier einem Schlückchen Rosenwasser und dort einem Häppchen Blütenpollen. Dann wiederum schwebte ich mit dem Sommerwind zwischen Gräsern und Blumen am Plätscherbach. Alle anderen Lebewesen, die Libellen, die Ameisen, die Mücken und selbst die Hummeln beneideten mich wegen meiner Schönheit. Da war ich mir ganz sicher. Ich spielte weiter in der lauen Luft, als ich plötzlich ein Leuchten zwischen den Grashalmen sah. Ich flatterte näher und hielt mich vor Überraschung an einem Kleeblatt fest, denn ich hatte wie durch ein Wunder einen großen funkelnden Diamanten entdeckt. Ein Edelstein für mich allein.
Der Edelstein hatte einer alten Bettlerin gehört und diese wiederum hatte ihn für einen Teller billiger Graupensuppe von einem verwunschenen Prinzen erhalten, als der nach drei Tagen – völlig verwirrt und ausgehungert – aus einem unwegsamen dunklen Urwald getaumelt kam und dankbar für die gute Mahlzeit die Alte reichlich belohnte. Doch die Bettlerin steckte den Stein in ihren zahnlosen Mund, um ihn sogleich, als er weder salzig noch süß schmeckte,