Das unglaublich unglaubwürdige Leben des Hannemann. Hans-Dieter Heun
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Ihn hatte sie geliebt, seitdem seine Familie und er in das graue Patrizierhaus am entgegengesetzten Ende des Häuserblocks eingezogen waren, der auch ihre Wohnung beherbergte und der, gewaltiges Viereck, einen großen Innenhof umschloss. Sie hatte seine hoch aufgeschossene, magere Jungenfigur geliebt, seinen dichten Stiftenkopf, die ewig fragenden braunen Augen und den übergroßen Adamsapfel – Fahrstuhl aufwärts, Fahrstuhl abwärts. Vor allem hatte sie seine Hände geliebt, vierzehn Jahre alte Patschhände, die bei gesuchter, absichtlich unabsichtlicher Berührung so herrliches Stromrieseln auszulösen vermochten.
Ingrid wusste nicht zu sagen, wie oft sie – versteckt hinter den Tüllgardinen ihres Jungmädchenzimmers – auf die Stunden des Nachmittages gewartet hatte, zu denen er, Lichtgestalt vom anderen Ende des Hofes, endlich auftauchte und auf seinem aus geklauten Teilen zusammengeschraubten Fahrrad vor ihrem Fenster seine Runden drehte. Dabei wagte er ab und zu einen sehnsuchtsvollen Blick in Richtung der Verborgenen. Das machte sie glücklich. Trotzdem ließ Ingrid ihn regelmäßig eine Viertelstunde warten, bis sie, ganz Unbeeindruckte, ebenfalls im Hofe erschien und ihm die Gnade ihrer Gesellschaft erwies. Dann fuhren sie zusammen Rad. Im Uhrzeigersinn.
Der Hof – der überdachte Innenhof – Dach wie Schutz und Abschluss nach oben und nicht wie Denken – für die damalige Zeit durchaus ungewöhnlich und modern bedacht – nun als Denken zu denken – einen riesigen Autohofkeller – oder Hofautokeller – mit vorstellbarer Sicherheit hundertdreiundachtzig mal neunundsiebzig Meter in allen Maßen – dessen wendelnde Steintreppenaufgänge – angelegt – um vor allem trockenen Fußes von den Garagen über den Autounterhof zu den einzelnen Häusern zu gelangen – an einem betonierten Weg von der Art der tausendjährigen Autobahn – nur entsprechend schmäler – mehr so kinderautobahnmäßig – auf der Gummireifen – folglich gleichfalls die von zwei nebeneinander fahrenden Zweirädern – alle zwölf Meter auf einer Betonplattenabschlussritze – Betonplattenanschlussritze – ganz nach jeweiliger Lebenseinstellung negativ oder positiv zu betrachten – so ein ähnliches Geräusch machten wie „Satt“ oder „Ich habe es satt" – Denkpause: Na was wohl? Richtig! – mündeten.
Auf dieser Kinderautobahn fuhren sie Rad: Hannemann innen, weil er ihr die engen Kurven abnehmen wollte, und Ingrid außen, wofür sie zwei- bis dreimal mehr in die Pedale treten musste, um auf gleicher Höhe zu bleiben. Aber das machte ihr nichts aus, denn sie war ja glücklich. Viele Jahre lang.
Er versuchte dabei, die Oberschenkel im Gleichtakt zu halten. Sein rechter Oberschenkel oben, ihr rechter Oberschenkel oben – gut gebräunt und durch den hochgeschobenen blauen Schulmädchenrock für ihn bestens sichtbar. Sie dagegen achtete, irgendwie weiblich bedingt, das Gegenteil zu erreichen, nämlich sein rechter Oberschenkel oben, ihr rechter Oberschenkel etwas nachwippend unten. Und Wechsel auf das linke Bein.
Hannemann setzte sich durch, die Kurven erzwangen den Rhythmus: Rechte Kurve, rechter Oberschenkel oben, linkes Bein gestreckt, Rollen ohne Tritt, danach geradeaus weiter treten. Gleichtakt. Sie fuhren immer im Uhrzeigersinn, rechts herum und stundenlang, bis Ingrid ganz schwindelig vor Glück zum Abendessen musste und danach in der Ruhe ihres Zimmers über die Fahrt des Tages nachdenken konnte.
Sie verschloss dabei ihre Tür, legte sich auf das Bett, die Hand in ihr Höschen gesteckt, streichelte sich und stellte sich dabei vor, wie er, schüchterner Geliebter, sie auf einer einsamen Bergwiese im untergehenden Sonnenlicht zwischen Edelweiß und Almenrausch hingebungsvoll verführte. Dabei, feucht von seinen Wunschfingern, liebte sie ihn doppelt. Sie hasste ihn, als er anfing, zu anderen Weibern zu gehen, fühlte die Enttäuschung wie einen schwarzen Klumpen in ihrer Brust.
Ja, es schmerzte wahnsinnig. Warum nur zu anderen? Sie war ebenfalls bereit, sie wusste es. Es war gemein! Er war gemein! Wut und Feuer stiegen in ihr auf.
Auf einmal der Wandel, ein Fall in den Anfang: Für den winzigen Bruchteil einer Sekunde war sie die andere Frau, die seit Urzeit all das verstand. Sie erkannte die vornehmste Pflicht aller Weiber, gleich duftenden Blüten zu locken, zu verlocken und sich willig befruchten zu lassen, um der Welt geniale Knaben zu gebären. Sie sah die Liebe der von Anbeginn füreinander Bestimmten, doch sie sah auch die Betrogenen, die Tränen der Unterlegenen, welche fließen, wenn eine stärkere Verlockung den Befruchter vor der eigenen offenen Venusfalle wegschnappt. Die natürlichen Abläufe lagen klar vor ihr, aber auch das große weibliche Verzeihen, eingerichtet von einer weisen Natur. Und gleichfalls die neue Hoffnung.
Ein Vorhang fiel, sie war wieder sie selbst. Sie hasste Hannemann und verzieh ihm schließlich doch, nachdem sich ihre Freundin an den schüchternen Liebling herangemacht hatte. Ihre beste Freundin, die verrucht war, ihr langes schwarzes Haar offen trug, sich bereits die Lippen anmalte und sich angeblich am Busen anfassen ließ.
Marion hieß das Miststück, und diese Marion lud den ahnungslosen Tropf ausgerechnet zu dem Zeitpunkt ein, da sie selbst, Ingrid, mit einer leichten Erkältung das Bett hüten musste. Folglich auf Hannemann nicht aufpassen konnte. Marion wollte ihm ihren neuen Plattenspieler zeigen, ihr Schmuckstück, ein Koffergerät, zu dem man einen extra Lautsprecher aufstellen konnte. Neben dem Sofa zum Beispiel.
„Du hast doch nichts dagegen, Ingrid? Er schwärmt doch sooooh für gute Musik, und meine Mutter ist ja auch noch da."
Marions Mutter war selbst eine Schlampe, Kosmetikerin mit manikürten Fingernägeln, und er, das Opfer ohne jede Chance, sagte glatt zu.
Ingrid nahm sich das Stethoskop ihres Vaters, hielt es an die Wand der Nachbarwohnung, Marion Scheinheiligs Wohnung. Richtig, bald hörte sie von drüben die beiden murmeln und noch dazu leise Musik. Ausgerechnet Peter Kraus mit „Susi Darling", ihrem Lieblingsstück. Von der Mutter hörte sie nichts.
„Susi Darling, deine Augen sind schöhön."
Jetzt hing dieses Flittchen bestimmt schon an ihrem Hannemann, drückte ihm die spitzen Brüste an seine Rippen und hauchte ihm kleine Küsse auf seinen aufgeregten Adamsapfel. Das Gemurmel hatte jedenfalls aufgehört.
„Susi Darling, komm lass uns tanzen geheeen."
Tanzen, wer´s glaubt! Marion grapschte sicherlich nach seiner Hand, schob sie unter ihren Pullover, den langen schwarzen Kamelhaarpullover, der ihre Höcker so verdammt gut nachzeichnete. Und er, der Treulose, tastete sich zu ihren Titten vor, wühlte seine Finger unter ihren Büstenhalter, spielte mit den rosa Nippeln. Ingrid wurde es bei diesen schwülen Gedanken noch heißer, als das Thermometer, rektal gemessen, ohnehin schon anzeigte. Sie legte sich auf ihrem Bett zurück, ließ seine Wunschfinger probehalber über die eigenen, noch jungfräulichen Brüste wandern.
„Da bab babaluba dab dab dab, oh Susi Baby ..."
Seine Finger. Das Wandern, Kreisen, Kneten. Schneller! Warum machte Hannemann, dieser Schuft, das nicht mit ihr? Sie hatte beim letzten Radfahren extra den zweiten Blusenknopf offen gelassen, damit er einen Blick auf ihre neue weiße Wäsche werfen konnte. Er hatte nicht einmal hingeschaut. Pah, nicht gewagt! Marion trug bestimmt schwarze Wäsche, er lag schwer atmend auf ihr, und sie rieben sich da unten.
„Oh, oh, Susi Baby, wenn du mit mir heute tanzen gehst, dann zeige ich dir ..."
Ja, zeig es mir! Verdammt noch mal, warum zeigst du es mir nicht? Marion hatte nur noch ihr schwarzes Höschen an, und er, er fummelte daran, darin herum. Mein Gott, Susi Baby, Hannemann, die Hand, diese geliebte Hand … Diese unendlich geliebte Hand.