Das unglaublich unglaubwürdige Leben des Hannemann. Hans-Dieter Heun
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„Dumme Frage, bin Ich nicht selbst das Wissen um jede Rechnung. Aber Ihr, Ihr seid ja ganz rot.“
„Das O! Der O O O ... Was ist überhaupt ein Orgasmus?“
„Das wisst Ihr nicht? Niemals erlebt? Wenn es denn Leben ist, das Euch beseelt.“
„Wie sollte ich? Ich zaubere, täusche nur.“
„Na gut, nach W.H. Masters und V.E. Johnson „Die sexuelle Reaktion des Menschen“ ist der Orgasmus eine kurze Episode physischer Befreiung nach dem varocongestiven myotonischen Anstieg, der sich entwickelt hat aus dem Ansprechen auf sexuelle Stimuli.“
„Ach so ist das. Und wer, bitte, ist W.H. Masters und V.E. Johnson?“ Der Zauberer hatte tatsächlich nie von jenen gehört.
„Geschöpfe, nur winzige, fehlbare Geschöpfe!“
„Wie alle Wesen von Euch.“
„Bitte?“
„Nichts, gar nichts! Doch was die Kleine gerade getan ... „
„Masturbation, nur eine unter vielen von mir geschaffenen sexuell reizvollen Vergnügungen. Sicherlich nicht die beste, aber auch nicht die schlechteste. Manchmal ist sie sogar ganz dringend von Nöten.“
„Masturbation? Wann?“
„Wenn der Mann oder meinetwegen auch die Frau brennt und sich möglicherweise allein auf einer einsamen Insel befindet. Soll der Brennende dann etwa Hühner hernehmen, um sich zu löschen?“
Ja, sie verzieh ihm schnell, dem Hannemann. Ihre allerbeste Freundin versicherte ihr hoch und heilig, dass sie, Marion, mit ihm nur „Knüppel aus dem Sack" gespielt hatte, was auch immer damit gemeint war. Sie verzieh ihm, obwohl er für ihre aller-, allerbeste Freundin zum regelmäßigen Benutzer wurde. Nachdem seine Tante abgereist war. Doch das alles erfuhr Ingrid erst viel später.
Seine Tante! Am liebsten hätte Ingrid ihr die Augen ausgekratzt. Sie hätte mit Wollust dabei zusehen können, wenn man diese Tante den Müllmännern zu rasender Hurerei angeboten hätte. Schlimmere Leute als Müllmänner kannte Ingrid zu jener Zeit noch nicht, und auch keine schlimmeren Worte.
Diese Tante war einfach in ihren Garten keimender Lustgefühle hereingeschneit und ließ sogleich einige Knospen erfrieren. Am Anfang, während Hannemann und sie weiter wie gewohnt ihre ewigen Runden mit dem Rad durch den Innenhof zogen, erzählte er nur, dass Tante Ute, die im Urlaub Elternstelle vertrat, ziemlich viel trank. Aber dann, nach einem Wochenende, an dem Ingrid ihn überhaupt nicht zu Gesicht bekommen hatte, war er völlig verändert: Der Liebling wich ihren Blicken aus. Ging aber ein anderes Mädchen, eine fremde Frau durch den Hof, sah er ihnen nach und lächelte dabei. Er guckte frech, als wollte er sagen: „Ich weiß jetzt Bescheid, ich kann euch alle haben!“
Es tat sehr weh. Die Sünde klebte an ihm, und er, der Mistkerl, schien diese Sünde sogar zu genießen. Noch viel mehr schmerzte das Wissen, der gemeine Kerl betrachtete sie weiterhin als geschlechtslos, wollte die Sünde einfach nicht mit ihr teilen. In jener Zeit blickte sie oft und oft in den Spiegel, nackt, prüfte ihre Figur und ihren knospenden Busen. Alles entzückend, und ein Spiegel lügt niemals: Nichts was verkehrt, nichts, was nicht reizend sein sollte.
Wobei, kann Nichts nicht sein sollen? Hannemann hatte irgendwann einmal eine ihr unverständliche Frage gebrabbelt: „Kann Nichts sein, wo es das Wesen des Seins ist, dass es ist und nicht, dass es nicht ist?" Sie verstand den Sinn nicht, wie sie vieles, was er so von sich gab, nicht verstand. Warum sollte sie da überlegen, ob ein Nichts sein konnte?
Jedenfalls war er sehr schweigsam, schweigsam und verändert. Und diese Tante Ute wirkte ebenfalls verändert. Sie strahlte mit der Sonne um die Wette, jugendlich frisch mit lebenslustigen, liebeslustigen Augen. Die beiden unternahmen auch viel zusammen, bis die Stuten-Tante endlich abreisen musste.
Ingrid vergoss während der letzten schrecklichen Stunden von Utes Aufenthalt viele heiße Tränen, konnte kaum schlafen, zeigte tiefschwarze Ränder unter den Augen. Ihre Mutter fragte bereits, ob sie vielleicht Würmer habe. Nein, sie hatte keine Würmer, nur immenses Herzeleid. Doch er, der Stinkstiefel, bemerkte es noch nicht einmal.
Seine Eltern kamen endlich aus dem Urlaub zurück, kehrten mit reinem Besen, und es gab zwangsläufig einen schlimmen Streit zwischen seiner Mutter, der man so leicht nichts verbergen konnte, und dieser sogenannten Tante. Das Resultat: Hannemann bekam für ewige Nachmittage Stubenarrest – sie, Ingrid, konnte doch nichts dafür –, und bald darauf wurde ihr Liebling in ein Internat gesteckt. Sie hörte etliche Jahre lang nichts mehr von ihm. Dann, an einem sehr heiteren Ferientag, rief er sie urplötzlich an und fragte, ob sie mit ihm zum Tanzen gehen wolle. So, als ob in den vielen Jahren seines Schweigens nichts geschehen wäre. Moment: Kann Nichts überhaupt geschehen?
Egal, sie, das treue Schaf, sagte zu. Er, ein junger Mann, erschien mit Blumen für ihre Mutter und einem kristallenen Briefbeschwerer als kostbares Geschenk für sie, sein Mädchen.
Tanzen, sinnliches Vergnügen, zärtliches Fühlen, das ursprünglichste Mittel eines zueinander gehörenden Paares kostbare Regungen, seelische, geistige Vorgänge durch geile Körperbewegungen, Gestik und Mimik zu versinnbildlichen. Ingrid war nur zu bereit.
Ihr Vater, sehr konservativ, bat den jungen Mann in sein Arbeitszimmer und machte ihn dort zur Sau, zu einer betrunkenen. Danach torkelte die junge Sau aus dem väterlichen Büro, aus der Wohnung, verschwand aus ihrem Leben. Und nicht sehr lange nach diesem peinlichen Vorfall stellte der gestrenge Herr Vater seiner Tochter den zukünftigen Gatten vor. Ingrid war achtzehn, an Gehorsam gewöhnt, doch irgendetwas in ihr schrie wilden Protest. Eine Stimme, fremd und dennoch vertraut, wütete in ihrem Bauch gegen die väterliche Bevormundung. Ingrid erschrak und fühlte rotes Wallen.
Der Zauberer probte sein Jagdhorn, doch Gott nahm Peitsche und Zügel, hielt die Meute zurück.
Das Wertvollste an der Zeit, unfassbare Dimension, ist der ständige Gewinn von Vergangenheit, der Anteil am Schatz der Erfahrung wächst. Niemand kann von einem Niemand um seine Erinnerungen – Alzheimer sei vor – betrogen werden. Ein unschätzbarer Vorteil, selbst wenn niemand niemanden niemals und manchmal auch leider nicht von seinen quälenden Rückblicken befreien kann. Von Drogen und zuverlässigen Handfeuerwaffen einmal abgesehen. Zeit ist folglich kostbar. Dennoch sind die Menschen nicht glücklich über den täglich realen Zuwachs, sondern richten, meist ohne Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, ihre Planungen und Wünsche in eine unwägbare Zukunft. Die wenigsten verstehen es, ihren durch die Zeit wachsenden Reichtum zu schätzen, klammern sich voller Hoffnung an das Erst-Werden, als ob die Zukunft nur aus goldenen Tellern mit goldenen Löffeln bestehen würde. Hoffnung lässt eben hoffen.
Die flüchtige Schwelle zwischen der Zukunft und der Vergangenheit, zwischen dem absoluten Nichtwissen und dem eingetretenen Sein, ist die Gegenwart, und es machte Hannemann immer wieder viel Freude, besondere Zeugen der unvollkommenen Bemühungen um die Messbarkeit des Präsens zu sammeln. Nämlich gute alte mechanische Taschenuhren.
Seit geraumer Zeit – diese geraume Zeitspanne in annähernder, nicht exakter Größe gemessen – gibt es nur noch wenige gute Uhren, die ihrer Bestimmung mit mechanischer Treue nachkommen. Im gerade herrschenden