Kindsjahre. Sebastian Liebowitz

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Kindsjahre - Sebastian Liebowitz

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Tür. „So, und jetzt schleich dich.“

      Und so kam es, dass ich nur wenig später das erste Mal in meinem Leben eine Kneipe betrat. Eigentlich hatte ich mich schon länger gefragt, wie wohl der Ort aussehen würde, an dem Papa so viel Zeit verbrachte. Der Blick, der sich mir von der Tür aus bot, war jedoch ernüchternd. Statt der erwarteten Wohlfühloase erwartete mich nämlich bloss ein muffiger Schankraum, dessen Einrichtung selbst in der schummrigen Beleuchtung nicht an Liebreiz gewann. Die Attraktivität des Hauses lag wohl eher in dem grossen, runden Tisch begründet, an dem mein Papa sich gerade lautstark mit ein paar Männern unterhielt. Man war sich offensichtlich uneinig darüber, welcher Gemüseladen in der Gegend die schönsten Früchte im Angebot hatte.

      „Ich sag euch, die Rosi aus dem ‚Löwen‘ hat die dicksten Melonen weit und breit“, verkündete Papa und wedelte mit seiner Zigarre.

      „Jaja, aber ich kann euch sagen, die von meiner Hanni sind auch nicht ohne“, behauptete der Herr mit der dicken, roten Nase, der ihm gegenüber sass.

      Der Mann, der neben Papa sass, stiess ihn mit seinem Ellbogen in die Seite.

      „Nur, dass das nicht das Einzige ist, was an ihr gross ist“, feixte er.

      Das schien den Herrn mit der roten Nase furchtbar böse zu machen.

      „Was willst du denn damit andeuten?“, schrie er und schüttelte drohend seine Faust. „Halt bloss dein elendes Schandmaul, du..“

      „Schandmaul ist gut. Deine Frau..“

      „Jetzt hört doch auf damit“, mischte sich Papa beschwichtigend ein. „Also, wenn ihr mich fragt, kann es Elli aus dem Sternen mit ihren Riesenbirnen mit allen beiden aufnehmen.“

      Das brachte sofort wieder Ruhe in die Runde, während man ernsthaft diskutierte, ob diese Birnen nun grösser als Rosis Melonen (aus dem Löwen) wären. Und spätestens, als der Herr, der neben Papa sass, noch hinzufügte, dass es aber noch mehr Pflaumen mit schönen Melonen gäbe, kehrte wieder Friede ein und man prostete sich unter grossem Gelächter zu.

      Dann schrie man nach einer gewissen „Greti“ und verlangte lauthals „noch eine Runde“. Bei dieser „Greti“ schien es sich wohl um die blonde Dame mit den Zöpfen zu handeln, die hinter dem Tresen herumfuhrwerkte. Als sie kurz darauf mit einem Tablett voller Flaschen an den Tisch trat, wurden die Männer seltsam still. Sie hatten wohl Angst, dass sie das Tablett mit den Bierflaschen, welches sie vor ihrem grossen Busen vor sich hertrug, fallenlassen würde und liessen es darum nicht aus den Augen. Und als sie das Tablett auf dem Tisch abstellte, kam ihr Papa sogar noch galant zu Hilfe und stützte sie, indem er ihr den Arm um die Hüften legte. Die üppige Dame schien jedoch auch ganz gut ohne fremde Hilfe zurechtzukommen. Sie schüttelte kurz ihr rundes Hinterteil, murrte etwas und schon rutschte Papas Hand von ihrer Hüfte. Dann nickte sie kurz in meine Richtung und fragte beiläufig: „Gehört der Bub zu euch?“

      Vier Männeraugen drehten sich zu mir um.

      „Au, verdammt, das ist ja mein Jüngster“, tuschelte Papa, dass man es bis auf den Parkplatz hören konnte. „Den hat mir sicher meine Alte auf den Pelz geschickt. Wartet nur, den bin ich schnell los.“ Er beugte sich vor und breitete scheinheilig seine Arme aus. „Ja, Sebastian“, rief er, „was tust du denn hier, mein liebes Kind?“

      Uns so nahm das Schicksal seinen Lauf.

      Papa hatte nämlich, wie sich herausstellen sollte, wenig Lust, bei seiner „Alten“ vorstellig zu werden. Kurzerhand setzte er mich raffiniert ausser Gefecht, indem er mich aus jedem Glas auf dem Tisch einen Schluck probieren liess. Bis ich merkte, dass es sich bei der Flüssigkeit in den Gläsern weder um Apfelsaft noch Himbeersirup handelte, war es freilich schon zu spät. Ich heulte wie ein Schlosshund, klammerte mich ans Hosenbein meines Vaters und kotzte ihm die Brühe glatt wieder auf seine Schuhe.

      Diese peinliche Vorstellung passte meinem Papa wiederum überhaupt nicht. Der Balg vertrug ja kaum was. Und so einer wollte auch noch ein Liebowitz sein. Da musste man sich ja schämen, aber sowas von.

      In Anbetracht dieser Umstände traf es sich also gut, dass die blonde Greti (mit den schönen Zöpfen) meiner Mama bereits die Kunde von meiner Unpässlichkeit überbracht hatte und dieser eine zeitnahe Evakuierung ihres Sprösslings ans Herz legte. Mama machte sich sofort auf den Weg und marschierte nur ein paar Sekunden später fuchsteufelswild in der Kneipe ein. Das tat sie recht geräuschvoll, was dazu führte, dass die Eingangstür der Kneipe seither etwas schief in den Angeln hing.

      Papa hatte gerade noch Zeit, seine Kumpels mit den Worten „oha, meine Alte“ vor dem aufziehenden Sturm zu warnen, da zog dieser schon über ihn her. Schäumend vor Wut hielt sie ihm vor allen Leuten die längst überfällige Standpauke und nahm dabei wenig Rücksicht auf Empfindlichkeiten. So reziklierte sie das bereits altbekannte „Saufkopf“ gleich mehrfach, bevorzugt in Kombination mit anderen, recht einfallsreichen, wenn auch wenig schmeichelhaften, Begriffen.

      Mama war zwar nur knapp ein Meter fünfzig gross und wog kaum mehr als 40 Kilogramm, aber wenn sie loslegte, war sie eine Naturgewalt. Das wusste auch Papa und so hielten er und seine Saufkumpane es für besser, die Böden ihrer Biergläser einer stummen, aber eingehenden, Überprüfung zu unterziehen, bis sich das tobende Weibsbild mit ihrem reihernden Balg verzogen hatte. Das tat sie dann wiederum recht temperamentvoll, und noch Jahre später sollten zahlreiche Risse in der Wand rund um den Türrahmen stummes Zeugnis von dieser ereignisreichen Nacht ablegen.

      Papa liess sich von diesem kleinen Zwischenfall zwar nicht davon abhalten, seine Präsenzzeiten in der Kneipe weiter nach oben zu schrauben, aber wenigstens hielt er sich von nun an mit der Sprösslings-Alkoholverkostung am väterlichen Stammtisch zurück. Nicht ganz uneigennützig, wie mir schien.

      Man hätte nun meinen können, dass durch diesen frühen Kontakt mit Alkohol, Papas Erbgut und seinem zweifelhaften Vorbildverhalten die Weichen für eine mehr oder weniger erfolgreiche Karriere als Alkoholiker bereits gestellt gewesen wären. Glücklicherweise hatte der grosse Bahnhofsvorsteher im Himmel aber andere Pläne mit mir und instruierte das zuständige Stellwerk, ein Treffen zu arrangieren.

      So ergab es sich, dass ein intelligenter, älterer Herr, der sein einziges Kind gerade in die Ehe entlassen hatte (und sehr darunter litt), eines Tages in einer Kneipe auf einen bestenfalls bauernschlauen, etwas jüngeren Mann traf, der eine zahlreiche Kinderschar sein eigen nannte (und sehr darunter litt). Und man sorgte auch dafür, dass Mama mich pünktlich losschickte, um dem Treffen der beiden beizuwohnen.

      Mittlerweile schon ein altgedienter Veteran in Sachen Saufkopfaufklärung, marschierte ich an diesem so erlebnisreichen Tag schnurstracks in die Kneipe gegenüber, wo ich, wie erwartet, Papa auf seinem angestammten Platz vorfand. Kurzerhand kroch ich neben ihm auf die Sitzbank und hatte schon bald einen Sirup vor mir stehen, den mir die freundliche Greti (mit einem umso unfreundlicheren Blick auf Papa) serviert hatte.

      Wir waren schon länger zu einer stillen Übereinkunft gekommen, mein Papa und ich. Ich blieb still und bekam dafür einen Sirup, und Papa blieb still, wo er war. Oder manchmal auch weniger still. Dafür blieb er aber wenigstens immer, wo er war.

      Und so liess ich, genüsslich am Röhrchen nuckelnd, meinen Blick schweifen und bemerkte erst jetzt den seltsamen Herrn, der Papa gegenüber sass. Seltsam darum, weil er irgendwie ganz anders aussah, als die Hallodris mit ihren roten Birnen und dem grossen Durst, die normalerweise am Stammtisch hockten, ein Bier nach dem anderen kippten und die Bude vollrülpsten. Der komische Herr hatte nämlich weder eine rote Birne, noch rülpste er. Und wenn man zum Massstab nahm, wie er an seinem Bierchen nippte, schien er auch nicht allzu grossen Durst gehabt zu haben.

      Nachdem

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