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20.
Ihr verabschiedet die junge Frau. Thomas ist überzeugt, in ihr eine Serviererin wiedererkannt zu haben, jene, die euch gestern den Kaffee gebracht hat. Du bist dir da nicht so sicher.
Dann verlasst ihr die Stadt. Du sprichst nur wenig. Noch weniger als gestern, und Thomas umso mehr. Dieser Mann hat dich verstört, dieser Moment in dem Museum gestern, ja, 'verstört' bist du, von dem Mann, auf den du dich zuvor wie ein Teenager gefreut hattest. Irritiert hat dich schon die Selbstverständlichkeit, mit der er, immerhin erklärter Materialist, einem Obdachlosen beim Dom eine Mark gegeben hat. Ach, gegeben, überreicht hat Thomas dem Mann das Geld, wie eine Gabe, während du noch gerechnet hast, noch abgewogen, ob er, der Bettler, es benötige oder verdiene, ob das Almosen sinnvoll, gottgefällig oder nicht sei, oder der Mann es nur versaufe, da hatte Thomas schon mit einer verbeugungsgleichen Geste die Münze in die ausgestreckte Hand gelegt.
Und dann diese Situation in dem Museum.
Anschließend hast du sie dir immer wieder in Erinnerung gerufen. Dieses dich überwältigende Gefühl, als er, während du noch versucht hattest, die im Boden eingelassene Inschrift zu fotografieren, plötzlich hinter dir stand.
Zitate von Tacitus, Beschreibungen römischer Legionäre, die mitten im tiefsten germanischen Urwald schon arg 'dezimiert' waren. 'Dezimiert' kommt von zehn, meint jeden Zehnten, meint, schon jeden Zehnten verloren haben. VORAHNUNGEN war der Titel einer Inschrift gewesen, und dann folgte in aufgeschweißten Lettern die Beschreibung der von Vorahnungen geprägten Nacht, von nicht schlafen und nicht wach sein können, genauso hast du anschließend die Nacht verbracht, alleine, natürlich, in eurem deinem Bett ohne Willi, 'schlaflos mehr als wirklich hellwach', auch du mit dem Gefühl, dezimiert zu sein, um mehr als einen Zehnten, um viele Zehnte deiner Lebensjahrzehnte. Wie mag sich ein Legionär gefühlt haben, zu wissen, dass das Dezimieren im Morgengrauen weitergeht, und man selbst bald wegdezimiert wird, aussichtslos zu kämpfen oder zu fliehen - hilft einem dabei Gott? Hatten sie einen Gott, an den sie glaubten?
Du hattest mit der Kamera innegehalten, hattest dich versenkt in den Text, du warst wie einer von ihnen, du hattest Vorahnungen wie sie, und Thomas stand ganz dicht hinter dir, körperwarmnah, mit einem Atem, der wie etwas Stoffliches deine empfindlichen Ohrmuscheln bestrich, ohne Worte, nicht zu sehen, nur zu fühlen, wie ein unsichtbarer Barbar in deinem Rücken, mit einer Hitze wie Feuer, wie die germanischen Lagerfeuer in der Finsternis, ringsum und geradezu bedrohlich. Thomas. Ihr hattet geschwiegen, du sowieso, aber auch er, der anschließend und seitdem den Mund nicht mehr zugekriegt hat. Aber selbst sein Schweigen war beinahe ohrenbetäubend gewesen, dein Tubenkatarrh hat gerauscht wie Schlachtlärm, wie Gesänge dich umzingelnder Barbaren, Thomas selbst hatte dich umzingelt, und du hast eine vollkommen irrationale Angst vor dem heutigen Morgen gehabt, vor dem Abmarsch, dem Weg, der ungefähr dem der Römer entspricht, die nur noch fort wollten, gejagt von der Übermacht, und du hast dich ernsthaft gefragt, wie lange - nicht ob, sondern wie lange Thomas brauchen wird, um dich zu … zu was eigentlich? Zu besiegen? Zu überwältigen? Zu - dezimieren?
Beim Daniel-Liebeskind-Museum bleibst du stehen und fotografierst zum wiederholten Male das Gebäude, von dem du nie weißt, ob du es als schön empfinden sollst. Statt gerader Wände nur spitze Winkel und schiefe Ebenen, und Fenster, wie mit der Machete aus der Holzfassade herausgeschlagen. Zu Architektur geronnenes Leid, aber statt wehzutun, löst das Haus immer wieder eine angenehm stille Melancholie in dir aus, und obwohl du in O lebst und in den letzten Jahren gewiss fünf oder sechs Mal das Museum abfotografiert hast, opferst du auch diesmal drei Bilder deines begrenzten Vorrats, und Thomas weiß einiges über das Dritte Reich zu berichten.
Auf einer Bank vor der frisch weiß getünchten Stuckvilla neben dem Museum sitzt ein Mann aus Pappmaschee, ein Farbiger in rotem Frack, mit schwarzem Zylinder auf dem Kopf, das Kinn auf die Fäuste gestützt. Er sieht dich an, gewissermaßen. Sieht dir beim Fotografieren zu und wenn man näher hinschaut, blättert der Lack an vielen Stellen ab, stellenweise kommt sogar das der Figur Form und Halt gebende Drahtgitter zum Vorschein, und auf dem Hut klebt Vogelkot. Ohne nachzudenken opferst du ein viertes Negativ für deinen scheinbaren Art- oder Leidensgenossen, dem Schicksal oder Fügung dieses Land zur Heimat gemacht hat. Beim Weitergehen ermahnst du dich zur Sparsamkeit, auch die Häuser der Altstadt zu fotografieren wäre nicht nötig gewesen, andererseits hat es etwas mit Vollständigkeit zu tun, wenn du auch den Ort, in dem du dein Leben verbracht hast, zum Bestandteil der Reise machst. Wie auch die Inschrift gestern.
Dieses Gefühl von Déjà-vu.
Vor fast einem ganzen Leben, auch er wird daran gedacht haben, er MUSS daran gedacht haben. Dieses unsichtbar Nahe, Thomas, der Barbar, trotz so vieler Worte kein Wort über jenen innigen Moment eurer Jugend, der dem gestrigen so ähnlich gewesen war. Stattdessen nur Plaudern und Scherzen, dem du nie rasch genug nachkommst, so schnell war Thomas damals schon gewesen, und heute erst recht, so überzeugt, ÜBERZEUGT, das ist es, was ihn dir unheimlich macht, Thomas ist so durch und durch überzeugt. Selbst schweigend vor der Metalltafel, da hast du seine Überzeugtheit regelrecht gerochen.
Im städtischen Shuttlebus, der euch zurückgebracht hat, habt ihr auseinandergesehen, du zum Fenster hinaus, er nach vorne. Du, mit dem Rucksack auf dem Schoß, hast kein Wort gesagt; und er von seiner Reise nach Australien erzählt, von einem Trail durch die Salzwüste zwischen Adelaide und Perth, von einer Nacht mitten in der geräuschlosen Ebene, in der nicht einmal der Wind wehte. Er hat versucht, dir das Gefühl zu beschreiben, wie das ist, wie das klingt, wenn man sich ein paar Schritte vom Fahrzeug entfernt, wenn man über die krustig trockenen Placken aus Salz und Lehm geht, eine schuppige, relief- und farblose Ebene, messerscharf am Horizont abgeschnitten und von der Milchstraße ausgeleuchtet, die wie eine weiße Wolke über dem Nichts liegt. Er hat versucht, dir das Rauschen in den Ohren zu beschreiben, das einzig Hörbare das eigene Blut, während dein eigenes krankes Ohr die Fahrgeräusche des Busses hundertfach verstärkte und in einen physischen Druck umwandelte, in einen in deinen Gehörgang gepressten Filzklumpen, der vom Klang seiner Worte immer wieder wie aufgerissen wurde. Sein ununterbrochenes Reden über die Stille der Natur kaum zu ertragen, aber du hast es ertragen, du hast tapfer den Salzsee deiner eigenen Kindheit gesehen anstelle des grünen Flaums auf den Frühlingsfeldern jenseits des Busfensters, du hast kalte Sterne gesehen und keine rosig bläulichen Wolken eines zu Ende gehenden Nachmittags. Du hast versucht, die verlorenen römischen Soldaten und die Wüste übereinanderzulegen, für einen winzigen Moment sogar umzingelt von schwarzen bespeerten Wilden, die vielleicht mal deine Familie gewesen waren.
Das Laufen geht gut. Der Rucksack ist nicht schwer, obwohl genauso voll wie gestern, aber - vielleicht auch, weil dein Ohr heute ruhig ist, oder einfach, weil etwas in dir dich antreibt - sein Gewicht belastet dich nicht. Ihr geht mit strammem Schritt durch die westliche