DIE GABE. Michael Stuhr

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DIE GABE - Michael Stuhr

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mit Salzwasser benetzte. Viel zu lange hatte er auf das Meer verzichten müssen. Langsam und kontrolliert ging er voran. Jeder Schritt tiefer in die eiskalte Brandung hinein brachte mehr Erleichterung. Er spürte, wie sein Körper begann, sich umzustellen. Er spürte die beißende Kälte des Wassers nicht mehr. Der Schmerz in seinem Rücken war unbedeutend geworden. Es gab nur noch das wohlige Gefühl, endlich da angekommen zu sein, wohin er wirklich gehörte.

      Nach diesem Vorfall würde Taureau nicht mehr nach Saint Malo zurückkehren können, das war ihm klar, aber es war nicht das erste Mal, dass er eine Stadt fluchtartig verlassen und seine Identität ändern musste. Vielleicht würde er für eine Weile nach Cornwall gehen, wo Sochon, der König seines Volkes zurzeit residierte. Alles Weitere würde sich finden.

      Ein letztes Mal schaute Taureau sich um, aber außer dem Toten war niemand mehr am Strand zu sehen. Kraftvoll stieß er sich von einem Felsen ab und war sofort in den Wellen verschwunden.

      01 TOTENGANG

      Mir ist kalt. Die Luft ist feucht und es riecht modrig. Der Boden ist mit kalkiger Nässe und milchigen Pfützen bedeckt. Fröstelnd ziehe ich die dünne Sweatjacke enger um meine Schultern. Aber die Gänsehaut bleibt.

      Langsam gehe ich weiter durch diesen düsteren Gang, der kein Ende zu nehmen scheint. Die anderen sind schon lange vorgegangen, aber ich kann mich nicht so schnell trennen von diesem Anblick. Dunkle Augenhöhlen starren mich aus Totenschädeln an, die ordentlich ausgerichtet in Reih und Glied an beiden Seiten des Stollens gestapelt sind.

      All diese vergangenen Leben voller Freude und Trauer, Liebe und Hass. Was mögen diese nun leeren Augenhöhlen wohl alles gesehen haben? Ich stehe vor einem Schädel und versuche mir auszumalen, wie dieser Mensch wohl ausgesehen haben mag. War es ein Mann oder eine Frau? Wie alt war er? War er glücklich in seinem Leben? Hat er geliebt, wurde er geliebt, musste er einen schmerzhaften Tod sterben?

      Mich schaudert, denn mir wird bewusst, dass nichts übriggeblieben ist von all diesen Menschen, weder ihre Namen, noch ihr Geschlecht oder ihr Alter. Sie durften noch nicht einmal die Knochen behalten, die früher zu ihrem Körper gehört haben. Die liegen nun seit Jahrhunderten in einer grotesk geometrischen Anordnung aufeinandergestapelt in diesem Gruselkabinett.

      Ein paar von Diegos Leuten könnten diese Menschen hier noch gekannt haben. Tatsächlich, das wäre doch möglich, wenn ich Diegos Erklärungen richtig verstanden habe. Darksider können sehr alt werden. Nachdenklich betrachte ich den Schädel vor mir. Vielleicht war dies hier ja ein Händler und Adriano hat mit ihm in längst vergangener Zeit in einer Schänke zusammengesessen und Geschäfte gemacht. Dieser Mensch hat vielleicht Pastis getrunken und Adriano wahrscheinlich Wasser, weil Darksider ja keinen Alkohol vertragen. Und dann, als dieser arglose Bürger von Paris ein bisschen angetrunken war, hat sich Adriano unauffällig etwas näher zu ihm gesetzt, um sich ganz nebenbei ein wenig von seiner Lebenskraft zu nehmen.

      Am nächsten Morgen hatte der ahnungslose Kerl dann einen heftigen Kater und hat das auf den übermäßigen Genuss von Pastis zurückgeführt. In Wirklichkeit hat er ein paar Jahre seines Lebens verloren. Mich schaudert, und wieder stehen die Ereignisse des letzten Sommers so lebendig vor mir, als sei das alles gerade erst geschehen.

      Hinter mir höre ich ein leises Atmen. Erschrocken fahre ich herum und starre in den halbdunklen, nur von wenigen Lampen beleuchteten Stollen. Nichts! Erleichtert atme ich auf. Ich dachte schon, da hätte mich einer belauert.

      ‚Ach quatsch Lana, das ist vorbei!’ schimpfe ich mich selbst. Trotzdem mache ich mich lieber auf den Weg. Kaum bin ich ein paar Schritte gegangen, höre ich ein gedämpftes Räuspern. Wie unter Zwang bleibe ich stehen, drehe mich langsam um und starre in das gespenstische Dämmerlicht. Eigentlich will ich nur weg hier, ich will fliehen, aber meine Muskeln versagen mir den Dienst, sie sind wie erstarrt.

      In meinem Kopf wummert es in gleichmäßigem Takt. Ich will den anderen hinterher, aber ich kann mich nicht rühren. ‚Das kenne ich, das kenne ich doch!’ Ich fühle mich, als würden sich bleischwere Hände um meinen Schädel legen und vor mir taucht das Bild einer Yacht auf. ‚Du musst dich losreißen Lana’, schreit es in mir, ‚das ist derselbe Trick wie damals. Reiß dich los! Befreie dich!’ Mit einem Aufschrei gelingt es mir, diese merkwürdige Starre, die mich befallen hat, zu überwinden.

      Unsicher drehe ich mich um und versuche, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Es geht langsam, viel zu langsam. Ich komme mir vor, wie in einem Traum, in dem man fliehen will und nicht vorwärts kommt.

      ‚Nimm deine Kräfte zusammen Lana und geh schneller.‘ Ich versuche es, aber es wird nur ein Dahinstolpern daraus. Erst als ich in eine Pfütze trete, und die kalte, kalkige Brühe mir bis an die Knöchel spritzt, werde ich wirklich wach und meine Muskeln gehorchen mir wieder.

      Viele Gedanken wirbeln mir im Kopf herum. Bilder von dieser Yacht, Dolores, die mich aus ihren Katzenaugen mustert, das Whisky-Glas, der Sprung über die Reling, das Wasser, das kalte dunkle Wasser und das Gefühl zu ersticken. Wo ist oben, wo ist unten? Die Strömung will mich in die Schiffsschraube hinein reißen. Die Erinnerung wird übermächtig, hier, in diesem dunklen unheimlichen Gang. Ich höre mich selber keuchen und mir wird bewusst, dass ich kurz davor bin, in Panik zu geraten. Wie besinnungslos hetze ich weiter.

      Meine todbringende Feindin mit ihren mächtigen Helfern hat immer noch Macht über mich. Ich spüre noch den kalten tiefen Sog unter dem Schiffsrumpf und meine schreckliche Angst, nie wieder Luft holen zu können. Wenn Diego nicht gewesen wäre, würde ich jetzt nicht hier sein. Andererseits wünsche ich mir in diesem Moment eigentlich nichts sehnlicher, als wirklich nicht hier zu sein.

      Meine Nackenhaare und mein ganzer Rücken geben mir knisternde Signale, die sagen, dass ich verfolgt werde! Aber wenn ich einen vorsichtigen Blick über die Schulter wage, sehe ich keine Bewegung, keinen Schatten, nur die Gebeine längst Verstorbener. Dass ich das mal als beruhigend empfinden würde, hätte ich mir auch nicht träumen lassen.

      Schweiß rinnt mir in die Augen. Wo verdammt noch mal sind die Anderen? Wie lange habe ich denn dort gestanden, ohne zu merken, dass die alle schon weg sind?

      „Diese Inschrift hier sagt uns, das die sterblichen Überreste 1859 vom Friedhof Madeleine hierher verbracht wurden ...“ Die rauchige Stimme von Madame Ulliette hallt gedämpft von den Wänden wider und klingt in meinen Ohren wie Engelsmusik. Endlich in Sicherheit. Schatten von Menschen sind hinter der nächsten Biegung zu sehen. Ich werde langsamer und versuche meinen keuchenden Atem in den Griff zu bekommen. Es muss ja nicht gleich jeder merken, das Lana Rouvier hier wie ein panisches Karnickel um die Ecke geflitzt kommt.

      Na, ja, jeder merkt es nicht, aber Beatrice allemal. „Hey, Lana, wo warst du denn? Mein Gott, wie siehst du denn aus? Hast du einen Geist gesehen?“

      „Halt die Klappe Bea!“, unterbreche ich sie leise und stelle mich möglichst unauffällig neben sie, während mir das Herz immer noch bis zum Hals hinauf hämmert. Ich versuche meine Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen. Unruhig schaue ich mich zum Gang hin um, aber dort ist niemand.

      Beatrice Dupont ist meine älteste Freundin. Wir kennen uns seit der ersten Vorschulklasse. Sie mustert mich mit kritisch zusammengekniffenen Augen und schluckt weitere lustige Sprüche runter. Ist auch besser so. Bea kennt mich gut genug um zu wissen, dass ich es wirklich ernst meine, wenn ich so pampig werde. Schließlich stupst sie mich an und flüstert: „Ey, ist ja gut, beruhig dich.“

      Es ist kalt, es ist feucht, es ist gruselig, was Madame Ulliette aber leider nicht daran hindert, uns in der Crypte de la Passion ausführlich Einzelheiten aus der Geschichte der Katakomben zu erzählen: „Von den über 300 Kilometern dieses Stollensystems

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