DIE GABE. Michael Stuhr
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„Pass lieber auf und merk dir das!“ flüstert Coco und schubst mich.
„Merk‘s dir doch selbst!“, flüstere ich zurück.
„Nö!“ Coco streicht sich grinsend über ihre lila gesträhnten kurzen Haare, zwinkert mir zu und gesellt sich zu ihrem Freund Hervé.
Hervé legt den Arm um sie und schaut sie dabei zärtlich lächelnd an. Die beiden sind seit einem halben Jahr ein Paar. Wie schon so oft frage ich mich, wie er sich gleich nacheinander in zwei so unterschiedliche Mädchen verlieben konnte: Zuerst in mich. - Fast so groß wie er, dünn und blond, und dann in die kleine Coco mit ihren schwarz-lila kurzen Haaren und dem ewigen Kaugummi zwischen ihren gepiercten Lippen. Ich bin nicht eifersüchtig, ganz im Gegenteil, ich mag Coco sehr. Auch wenn sie ganz anders aussieht, sie erinnert mich in ihrer lustigen, kumpelhaften Art ein bisschen an Felix.
Felix! Während ich Hervé und Coco folge, tauchen die Erinnerungen an sie und Port Grimaud wieder auf: Unsere Aktion bei der Miss Teen Beach Wahl und der Spaß, den wir beim Üben hatten und wie sie tanzen konnte und dann ...
Ein leichter Stupser in die Seite treibt mich vorwärts. „Träum nicht, Chérie, jetzt geht’s an die frische Luft.“ Bea drängt sich an mir vorbei in den Aufgang zu einer schmalen Wendeltreppe.
„Oh Gott, ich krieg Platzangst!“, stöhne ich auf, als ich zögernd in diese steinerne Enge schaue.
„Los, mach schon, sonst hältst du noch den ganzen Verkehr auf. Jetzt komm! Du schaffst das schon, sind ja nur 83 Stufen.“
„Nur ist gut“, maule ich und folge ihr.
Keuchend erreichen wir den Ausgang. „Tatsächlich, 83 Stufen“, schnauft Bea vor mir.
Ich hab nicht gezählt. Ich bin froh, dass ich diese bedrückende Enge endlich hinter mir habe und wieder frei atmen kann.
„Na toll, wenn da unten einer umkippt, muss man erst bis hier hoch hecheln, um Hilfe zu holen“, meckert Bea und deutet auf den Defibrillator an der Wand.
„Na, der hat’s wohl nicht mehr geschafft“, prustet Coco hinter mir los und zeigt auf einen Totenschädel, der neben dem Glaskasten mit dem Elektroschockgerät auf einer Ablage liegt. - Vermutlich das konfiszierte Beutestück eines Touristen.
Zwei Bedienstete der Katakomben kontrollieren sorgfältig unsere Taschen und Rucksäcke. Sie finden unser Gespräch gar nicht witzig, denn sie sind Knochenjäger. Sie suchen nach geklauten ‚Souvenirs‘ aus den Katakomben. Unser Grinsen quittieren sie mit ziemlich bösen, misstrauischen Mienen. Aber sie werden nicht fündig. Keiner von uns hat Knochen oder Schädel dabei - außer dem eigenen natürlich.
Helles Sonnenlicht blendet mich und eine wohltuende Wärme schlägt mir entgegen, als ich endlich auf die Straße hinaustrete. Mit dem Sonnenlicht schwinden jetzt endlich auch meine Beklemmungen, die ich die ganze Zeit über dort unten empfunden habe. Dieses leise Atmen hinter mir habe ich mir bestimmt nur eingebildet. Vielleicht waren das ja auch Geräusche vom Belüftungssystem. Und dass ich mich wie betäubt gefühlt habe und kaum weglaufen konnte, diese Muskelstarre, nein, das war wohl doch kein hypnotischer Einfluss. Bestimmt ist die Luft dort unten von betäubenden Gasen durchsetzt und es war ja auch ziemlich kalt, rede ich mir ein. Trotzdem fühle ich mich so, als sei ich gerade in großer Gefahr gewesen.
Nach und nach sammeln wir uns am Geländer vor dem Ausgang. Ich könnte jetzt ne Cola gebrauchen, aber hier gibt es leider keinen Kiosk. Komisch eigentlich. Die Pariser Katakomben locken doch jede Menge Touristen an.
Bea stößt mir leicht in die Rippen. „Du sag mal, was war denn vorhin los mit dir?“ Neugierig sieht sie mich an.
„Ach nichts, mir war nur unheimlich, weil ich euch nicht gleich gefunden habe“ - Tolle Erklärung! Es gab dort nur einen Gang. Unmöglich, eine Gruppe von 20 Schülern zu verfehlen.
„Mmh“, meint Bea nur und sieht mich stirnrunzelnd an.
„Na Kinder, auch froh, wieder an der frischen Luft zu sein?“ Mit hochrotem Gesicht erscheint Madame Ulliette im Ausgang und tupft sich mit einem Taschentuch seufzend die schweißglänzende Stirn. Ihr Blick fällt dabei auf meine Schuhe. „Na Lana, bist wohl auch in so eine Kalkpfütze getreten. Ob du das wieder raus kriegst?“, zweifelnd schüttelt sie den Kopf.
„Ihre Schuhe sehen aber auch nicht besser aus, Madame Ulliette“, meint Coco. „Oh und meine eigentlich auch nicht“, fügt sie betroffen hinzu, als sie an sich selber hinunter schaut. Keiner ist bei diesem Marsch durch die Katakomben gut weggekommen und überall wird Genörgel laut.
Schmieriges Weiß bedeckt meine Chucks. Während ich sie betrachte und meine Zehen darin hin und her bewege, merke ich, dass sich der rechte Schuh total vollgesogen hat. Na toll, die Schuhe habe ich mir vorige Woche erst gekauft.
„Wir fahren jetzt mit der 4 von Alésia zur Châtelet und gehen dann an der Seine entlang zum Louvre“, verkündet Madame Ulliette und reißt mich aus meinen Gedanken.
„Och nee!“, stöhnt Hervé auf, „warum können wir denn nicht in die 1 umsteigen und direkt bis zum Louvre fahren? Wozu gibt es denn die Metro?“
Madame Ulliette schüttelt energisch den Kopf. „Also bevor wir in Ch?telet durch diese vielen Tunnel gelaufen sind, haben wir den Louvre dreimal erreicht.“
„Oh ja, da hat sie leider Recht“, sagt Bea zu Hervé und verzieht betrübt die Lippen.
„Außerdem hab ich genug von unterirdischen Gängen“, fügt Madame Ulliette hinzu. „Ein bisschen frische Luft wird uns nach diesem Moder in den Katakomben bestimmt gut tun!“ Das allseitige Murren nimmt sie als Zustimmung und marschiert einfach los.
Als wir ihr zögernd zur Metro folgen, sehe ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung am Ausgang der Katakomben. Ein Mann tritt blinzelnd auf die sonnige Straße und schaut sich suchend um. Wie zufällig streift mich sein Blick. Mir wird ganz kalt. Ich hake mich bei Bea ein, ziehe sie vorwärts und drängele mich durch die Gruppe unserer Mitschüler, ohne auf ihre Proteste zu achten.
„Was ist denn mit dir los?“, mault Bea neben mir und gerät fast ins Stolpern, so heftig reiße ich an ihrem Arm. „Wieso hast du es denn plötzlich so eilig? Werden wir verfolgt?“ Sie schaut neugierig zurück und sagt dann laut - viel zu laut: „Na der hat sich seine Schuhe aber auch ganz schön ruiniert. Warum starrt der uns denn so an?“
Ich drehe mich nicht um und zerre weiter an ihrem Arm. Wieder spüre ich diese knisternde Anspannung in meinem Rücken.
„Was ist denn nur los mit dir?“, meckert Bea. „Du bist heute so komisch, so als wärest du vor irgendwas auf der Flucht. Vorhin da unten auch schon.“
Wenn sie wüsste, wie Recht sie hat. Ich bin auf der Flucht. Auf der Flucht vor den Schatten des Sommerurlaubs in Port Grimaud. Auf der Flucht vor Darksidern, die mich schon einmal entführt und fast umgebracht haben. Ich habe immer noch Angst vor Dolores´ Leuten.
„Jetzt sag doch mal, was ist los mit dir?“, drängelt Bea.
„Erzähl ich dir später“, murmele ich gereizt und zerre sie weiter, bis wir endlich in die nächste Straße einbiegen und im Schutz der hohen Häuser verschwinden können.
02 DER AUFTRAG
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