Die Gabe des Erben der Zeit. Georg Steinweh
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Der Streit dreier Päpste um die Vormachtstellung mit allen dazu gehörigen Versammlungen und Diskussionen um die gerechte, weil christliche Sache schwemmte viele Wichtige und noch mehr Neugierige in die Stadt. Zeitweise schwoll sie zu einer Größe von vielleicht 70.000 Menschen an. Weit über die Stadtmauern hinaus, in den umliegenden Stadtteilen vom Paradies im Nordosten bis weit westlich vom Emmishofer Tor campierten die Reisenden sehr armselig unter Planen oder fürstlich in eigens mitgeführten pompös ausgestatteten Zelten.
Vor dem Münster wurde das Gedränge gefährlicher, die Bürger drängten aneinander und verklebten zu einem taumelnden Mob. Im Kirchenschiff dagegen fügte sich der prächtige Kirchenstaat unter Verbreitung einer gehörigen Menge Weihrauch zu einer geordneten Prozession. Die Obertöne des Geläuts schoben die Geistlichkeit in geordnete Bahnen, zumindest nach außen wollten die nach wie vor uneinigen weltlichen und kirchlichen Fürsten ihr Gesicht und vor allem ihre eigene Würde wahren.
Wie es sich für einen Kirchenumzug gehörte, ging der Machthaber hinter den zwei Patriarchen, die mit dem Monstranzenträger unter einem goldenen Baldachin schritten und das Volk segneten. Den König, der unter seiner goldenen Krone eine schlichte Chorkappe trug, geleiteten zwei Kardinäle.
„Wer ist der mit dem Schwert?“, fragte ein zugereister Handwerker eine neben ihn gedrängte Frau, deren braunes, unter der Brust mit einer langen hellen Schürze gebundenes Kleid noch eine Spur schlichter war, als all das stumpfe Braun und fade Grün um sie herum. „Herzog Ludwig von Brieg. Und der mit dem Zepter ist der Bayernherzog Heinrich. Und die Lilie trägt der Kürfürst von Brandenburg.“ Während die Frau erklärte, winkte sie ihnen weiter zu, den in farbenprächtige Gewänder gekleideten Kardinälen, Erzbischöfen, Bischöfen und Äbten.“
Fred schmunzelte.
Ganz schön clever, dieser Beißwanger. Füttert seinen Artikel mit direkten Reden, damit sich der Leser mittendrin fühlt.
Wie zum Beweis las er weiter:
„Ehrwürdig schritten sie am Volk vorbei, Herzöge, Grafen, Herren, Ritter, Gelehrte. Der Strom aus prächtigen Kleidern wollte nicht enden und demonstrierte eine Farbenpracht, die das schillernde Leben des flanierenden Zuges von dem der Winkenden unmissverständlich trennte.
Viele der Herrschaften hatten ihre Kerzen den neben oder hinter ihnen gehenden Dienern übergeben. Es war nötig, sich dem Volk zu zeigen, im besten Staat dem König, den Kardinälen in der Fronleichnamsprozession zu folgen. Die schwere Kerze deswegen ständig selbst zu tragen, war nicht angemessen.
Am Unteren Münsterhof ging der Zug vorbei mit Blick zu Sankt Johann. Es waren sicher mehrere Hundert Edle vorbeigezogen, als eine große Gruppe der Bettelorden folgte, denen wiederum unzählige Bürger anhingen.
Die Gassen wurden enger, der Zug kam zum Stillstand. Der König, die Regenten und Kardinäle wandelten nah wie selten mitten durch ihr Volk. Und das Volk tat wie von ihm erwartet: es jubelte den Würdenträgern zu und hoffte ungeduldig auf die Entscheidung, welchem einzigen Papst in absehbarer Zeit gehuldigt werden sollte. Doch das Volk sollte noch lange warten.
Auch der Stephansplatz war ein weiter Kirchhof. Mit der großzügigen Umbauung des Platzes durch die Franziskaner, die ihre Unterkünfte wie ein schützendes ‚U’ um Sankt Stephan bauten und links zur Brudergasse ihre Kirche platzierten. Die schönen Fassaden der Patrizierhäuser, oft drei bis vier Stockwerke hoch, bildeten einen ansprechenden Rahmen für das großartige Schauspiel. Auf stabilem Steinfundament gebaut fanden sich unten Werkstätten oder Geschäfte, während in den oberen Etagen, als Fachwerke ausgebaut, die Kammern der Wohnungen mit einer beheizbaren Stube lagen.
An diesem großzügigen Ort hatten sich Krämer, Kleinwarenhändler und Schreiber dem Schutz der Kirchen anempfohlen. Aber hier wurde auch gebacken. Die Franziskaner besaßen zwei große Backhäuser, die sie den zugereisten Bäckern zur Verfügung stellten. Außerdem wuchs Monat für Monat an der Begrenzung zum Bündrichhof, rechts vom Kirchplatz, Backhaus um Backhaus. Tagelöhner von weit her mauerten bauchige Höhlen, damit die täglich wachsende Einwohnerzahl mit frischem Brot versorgt werden konnte.
Trotzdem war es nötig, mit Karren, Wagen, sogar mit Schiffen Brot herbeizubringen, damit es den Bürgern nicht mangelte und die Preise nicht zu sehr stiegen. Die Bäcker vom Oberen Markt unterhielten hier im Schutz der Mönche ihre Backhäuser...“
Die Zeitung sank auf den Steg. Fred fühlte sich mitgenommen.
„Gut gemacht, Herr Historiker“, sagte er vor sich hin, „aber trotzdem, ein grässliches Leben dieses Mittelalter. Nix für mich.“
Für Fred war das alles zu eingeengt, zu ärmlich, zu sehr von Kirche und Fürsten dominiert. Er war gerne sein eigener Fürst – und dominierte gerne andere Menschen. Mit einem letzten, die damaligen Bürger bemitleidenden Lächeln schloss er das Kapitel Konstanzer Konzil für sich ab.
Daß Fred hier irrte, konnte er nicht ahnen. Daß es mit dem Mittelalter zu tun hatte, lag tatsächlich nicht auf der Hand. Daß im Haus etwas nicht mit rechten Dingen zuging, hätte er allerdings merken können.
Der Puls pochte im Finger. Fred schreckte auf. Hatte er geschlafen? Wie lange? Am Stuhlbein flatterte die Zeitung. Alles noch so wie vorher. Die Wunde tat verdammt weh. Bewegungslos saß Fred, einem Sommerfrischler gleich, auf seinem schäbigen Stuhl und lauschte diesem Gefühl.
Um so angenehmer empfand Fred nun die kühlende Brise vom See. Die Zeitung raschelte immer noch. Entspannt lehnte er sich im Stuhl zurück, schaute dem Wind entgegen und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. Obwohl es nichts zu korrigieren gab. Die Locken saßen. Ein Vorteil der Kürze. Er betrachtete seine Hände. Gut, die könnten kleiner sein. Seit er 13 war trainierte er mit Expandern und einem Trainingsgerät der NASA, das angeblich auch in der Schwerelosigkeit funktionierte. Hier auf der Erde hielt es seinen Körper in Schuss.
Der See war gut für Fred. Wellen, nur Wellen, Wasser, wohin er schaute. Er schaute aber nirgendwo hin. Trügerisch. Keinen Augenblick blieb eine Welle gleich, jeder Tropfen, der sich einmischte, veränderte alles.
Licht, mit etwas Glück die Sonne, verwandelte sich in Reflexe, die von Wellenkamm zu Wellenkamm hüpften. All dies und noch mehr sorgte dafür: es gab keine Wiederholung.
Auch die Erinnerungen an seine Jugend waren keine Wiederholung, es waren einfach nur Erinnerungen – auch wenn sie ungefragt auftauchten. Wie die Ereignisse der letzten Tage. Sie mit dem Blick zum See noch einmal gezielt abzufragen, hatte nicht einmal den Schmerz in seinem Finger gelindert. Er war keinen Schritt, keinen Gedanken weiter gekommen.
Der Horizont interessierte ihn immer noch nicht, seine Augen fixierten stur weiterhin einen Platz weit im See und entwarfen auf der Netzhaut das schlichte Bild einer Welle. Einer Welle. Einer Welle.
Sein Reiz für die Wiederkehr des immer Gleichen wiederholte sich sogar im Brief des Vaters.
Mein lieber Alfred,
Ich könnt das Kotzen kriegen, ignorierst einfach meinen Wunsch, Fred genannt zu werden.
Es tut mir aufrichtig leid, nicht zu früheren Zeiten den Weg zu Dir gefunden zu haben. Sicher denkst Du von mir, daß ich ein alter, sturer Bock bin. Sonst hätte ich mich ja bei dir gemeldet.
Da hast du allerdings Recht.