Die Gabe des Erben der Zeit. Georg Steinweh
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Mit seinen Händen fing er das Wasser, um sich den letzten Schlaf aus den Augen zu reiben. Hellrot verfärbte sich das Wasser, rann zügig in den Abguss.
Unbeteiligt, quasi von außen, schaute Fred einen Moment zu. Erschrak dann doch, fasste sich an den Kopf. War er verletzt? Spürte er wegen des Restalkohols keinen Schmerz? Ein dünner Rinnsal schlängelte sich am Handgelenk entlang, suchte seinen Weg zum Unterarm, Fred zuckte zusammen. Den Kopf hatte er untersucht, verletzt war aber die rechte Hand. Befreiend, endlich den stechenden Schmerz zu spüren. Eine tiefe Fleischwunde zeichnete in den Mittelfinger ein scheinbar viertes Gelenk. Das vordere Glied des Fingers war nahezu halbiert, am benachbarten Zeige- und Ringfinger waren nur kleinere Hautrisse.
Reflexartig schoss die Hand unter den Wasserstrahl. Das Edelstahlbecken überzog sich mit einem hässlichen Schleier. Chrom und Blut, das passte nun überhaupt nicht zusammen. Bräunlich schlierte die Flüssigkeit in den Abfluss, fast so, als berührte sie nicht einmal die polierte Oberfläche.
Fred bewegte äußerst vorsichtig das Stück Fleisch, Schmerzen zuckten durch die Hand, er sog spitz die Luft zwischen seinen Zähnen ein. Die Kuppe war noch dran.
Tut es so weh, weil ich es jetzt sehe?
Es tat höllisch weh. Er fragte sich nicht einmal, bei welcher Gelegenheit sich die Fingerspitze von ihm trennen wollte. Schnell wickelte er ein frisches Geschirrtuch um die Wunde und suchte ein Pflaster. Im Bad war nichts zu finden. Bevor er weitersuchte, wickelte er sein getränktes Tuch auf und ließ aus Brusthöhe Blutstropfen für Blutstropfen vom Waschbecken auffangen. Fächer, rote Pusteblumen gestalteten die weiße Oberfläche.
Na also, sieht doch gleich viel besser aus.
Erst in der unbenutzten Erste-Hilfe-Box seines Saabs wurde er fündig. Fred war Linkshänder, es war also nicht allzu schwierig, aus den plastikverschweißten Paketen ein langes Stück Mullbinde herauszuschneiden. Zusätzlich rollte er noch zwei Lagen Leukoplast um die verbundene Wunde.
Sicher ist sicher.
Er wollte den Brief noch einmal lesen, nein, er sollte lieber entspannen und nachdenken, wann und wo er sich in den Finger geschnitten hatte. Oder doch lesen? Auf dem Dielenboden der Stube lagen die Seiten, die der Notar Fred ausgehändigt hatte. Er schüttelte sie, als wollte er die Buchstaben in einen ihn verständlicheren Zusammenhang bringen. Wollige Staubflusen lösten sich vom Papier, das Konrad Keller am 21. Januar 2011 - lange vor seinem Tod - beschrieben hatte. Die Luftwirbel scheuchten winzige Staubpartikel auf, die im fahlen Tageslicht chaotisch tänzelten. Durcheinander fühlte sich auch Fred und beobachtete die Flusen. Den Boden schrubben, dazu konnte er sich nun wirklich nicht durchringen. Er würde sich doch nach einer tüchtigen Putzfrau umschauen. Raus hier!
Der Frühlingstag erschien umso freundlicher, je mehr das Erdgeschoß nervte. Er war matt und leer, und obwohl er ein rationaler Mensch war, blockierte tief drinnen irgendetwas jeden vernünftigen Gedanken. Wie umschmeichelte ihn dagegen das fast kniehohe Gras, das erklärte, wie jeder Schritt ein kleiner Fortschritt, eine Erkundung fremden Terrains sei. Das Schilf rechts vom morschen Steg wog sich mal nach links, mal nach rechts, als wäre es nicht sicher, ob es Fred die eine oder die andere Richtung einschlagen lassen sollte.
Unter dem Vordach des Schuppens lehnten drei rostige Klappstühle. Fred ertappte sich dabei, etwas zu lange im Schuppen nach der Zündapp geschaut zu haben. Natürlich war sie nicht mehr da. Er ärgerte sich maßlos. Nicht über die Zündapp, über sich. Wie konnte er nur so einfältig sein? Was glaubte, hoffte er zu finden? Achtzehn Jahre zu spät.
Er schnappte sich einen Klappstuhl, dessen ehemals farbenfrohe Stoffbespannung so gar nicht zu seinem Vater passen wollte und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen.
So morsch ist der Steg gar nicht, wie er aussieht. Ein paar Bretter austauschen, eine Handvoll Pfennigsnägel, ein Wetterschutzanstrich. Müsste reichen.
An der Spitze des Stegs klappte der Stuhl mit einem quietschenden Schwung auf, Fred ließ sich vorsichtig, sehr vorsichtig nieder, auch hier vertraute er den Hinterlassenschaften seines Vaters nicht. Und das Schilf bemühte sich weiter, keine eindeutige Richtung anzugeben.
Der Brief? Steckte zusammengefaltet in seiner Hemdtasche.
Da sollte er erst mal bleiben. Fred wollte sich wenigstens gelegentlich darüber informieren, was die eingesessenen Bürger am Untersee umtrieb, was sonst in der Gegend los war.
Wie er so auf dem Stuhl saß, den „Konstanzer Boten“ durchblätterte, machte er auf den See, die Möwen, die Schwäne einen völlig entspannten Eindruck. Urlaubsstimmung in Fred? Weit gefehlt. Flüchtig überflog er die Regionalpolitik, ignorierte verächtlich goldene Jubiläen und Ehrenmitgliedschaften in diversen Vereinsmitteilungen.
„Anmerkungen zum Konzilsjubiläum 2014“, las er laut dem See entgegen. Meine Güte, das ist doch noch eine ganze Weile hin, dachte er verwundert und begann zu lesen.
„Das Münster barst vor Menschen. Das war nicht immer so um 1414, aber für die nächste Zukunft würde das Interesse der Bürger wie der Adligen sicher ungebrochen bleiben. Der nächste Sonntag könnte völlig anders aussehen wie dieser Sonntag, die nächste Messe könnte ein anderer Papst wie dieser halten.
Die Messe hielt Papst Johannes XXIII. Demnächst würde er seinen Rücktritt anbieten, dann doch aus Konstanz fliehen, wenig später von König Sigismund festgesetzt. Aber alles zu seiner Zeit.
Kein einziger Mensch feindete die feierliche Handlung an oder störte sich daran, welcher der drei Päpste an diesem Tag der Glaubensgemeinschaft vorstand. Papst Johannes war sowieso der einzige in Konstanz anwesende Papst.
Im Augenblick weihte er die Kerzen mit Weihwasser. Der Papst beendete seine Zeremonie und reichte dem Erzbischof von Dänemark das Weihwasser. Am Altar des Leutpriesters stand ein Thron, ähnlich dem Thron am extra erbauten Altar neben dem Sakramentshäuschen. Der Papst saß also auf dem hohen Leutpriesterthron und jeder im Münster konnte ihn sehen. Vor dem Sankt Georgsaltar erhob sich eine Podest mit vier Sitzen für die Patriarchen und den Hochmeister von Rhodus.
Das Kirchenschiff quoll über vor Farben. Kardinäle, die in der Kirche ohne ihre breiten roten Hüte anzutreffen waren, Erzbischöfe und Bischöfe in violetten Talaren, Gelehrte in blauen und ockerfarbenen Gewändern drängten sich neben den Hausherrn, den gelähmten Dekan Albrecht von Büttelsbach. Von goldenen Streifen durchbrochene Blautöne, grüner Samt, weiße leuchtende Tücher, roter Wams und schwarze Kleider, goldene Leuchter und silberner Stahl, jede Farbe war würdig genug, um in der Kirche vertreten zu sein.
Auf der weltlichen Seite verfolgten Graf Rudolf von Montfort, Graf Berthold von Orsini, Markgrafen aus Deutschland, Herzöge aus Frankreich, der Bürgermeister Heinrich Ehinger und viele Magister, wie der Papst es sich nicht nehmen ließ, den Kardinälen zur Hand zu gehen. Demütig verteilten sie1500 unterarmlange Kerzen an die Gläubigen und sammelten sich zur Prozession.
Mit imponierendem Getöse verbreitete sich der Klang der Glocken weit über den Münsterplatz hinaus. Jede einzelne Glocke zeugte davon, wie wichtig die Zeremonie und wie einzigartig und tatsächlich in dieser Konstellation unwiederholbar war, von der sich Papst Johann eine positive Signalwirkung erhofft hatte.
Die drängenden Menschen draußen würden also bald den Papst und die hohen Würdenträger zu Gesicht bekommen. Das Geläut verstärkte aber nur die Unruhe, jeder wollte nahe