Die Gabe des Erben der Zeit. Georg Steinweh

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Die Gabe des Erben der Zeit - Georg Steinweh

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überlegte es sich anders, setzte sich wieder und machte mit der Hand eine fahrige Geste. „Selbstbedienung.“

      Mit zwei Flaschen kam der Störenfried zurück an den Tisch. „Darf ich?“

      „Heute ist Ruhetag“, entgegnete Fred nur. Der Fremde holte sich einen Stuhl und setzte sich in gebührendem Abstand zum Nörgler an den Nachbartisch. Er wollte nicht unhöflich sein - aber neugierig schon. Fred schaute ihn an, aber genauso gut hätte er den Ranken an den kaum mehr sichtbaren Mauern zusehen können, wie sie wuchsen.

      „Ich will ja nicht wirklich stören. Aber vielleicht kann ich helfen.“ Mit einem ‚Plopp’ öffnete er die Bierflasche, trank sie halb leer und klemmte sie mit einem genießerischen „Aaaah“ zwischen die Beine.

      Fred ließ den Fremden warten.

      „Hier läuft alles bestens. Nur die Putzkolonne hat mich versetzt.“

      Sein Gegenüber gab nicht auf. Freundlich streckte er dem Einsilbigen die Hand entgegen. „Paul Anker, Architekt. Ich habe Kontakte zu Handwerkern jedweder Couleur. Und das mein ich auch so.“ Dabei lachte er derb über seinen eigenen Witz.

      Architekten duzen wohl jeden, dachte Fred, musterte den Typen skeptisch und drückte die angebotene Hand. „Fred Keller, Pächter. Ich habe Kontakte zu einer guten Brotzeit. Und das mein ich auch so.“

      Während Paul sich über eine dicke Scheibe roten Pressack hermachte, schilderte Fred kurz seine Pläne. Das Lokal war in einem Zustand, der dem des Gartens ähnlich war. In den Fugen der Küchenfliesen klebte das Fett der letzten Jahre, die zwei Gasträume rochen nach Zeiten, als in Wirtschaften noch geraucht wurde und verlangten danach, behutsam aber gründlich modernisiert zu werden. Fred schilderte seine Pläne ziemlich detailliert, aus seinem Leben erzählte er aber nahezu nichts.

      Trotzdem entwickelte sich hier in diesem Garten ihre Freundschaft und es war nicht Fred Keller, sondern Paul Anker, der von Anfang an eine Nähe ermöglichte, die in den folgenden Jahren immer intensiver wurde. Seine schnoddrige Art ließ sofort vergessen, daß Paul eher einem aalglatten Banker glich, der seine blonden Haare mit viel Gel in Form halten musste.

      Zu guter Letzt hatte es doch geschlagene drei Wochen gedauert, bis die erste Suppe aus dem Topf geschöpft wurde. Eine Rundumsanierung wie Paul sie geraten hatte, konnte und wollte sich Fred nicht leisten. Der Besitzer war auch nicht gerade jemand, der zum damaligen Zeitpunkt großes Vertrauen in sein Gasthaus gesteckt hätte – geschweige denn Geld. Die Küche keimfrei und ansehnlich zu bekommen, war schwieriger als erwartet, aber Pauls Truppe war ihr Geld wert.

      Die Wirtsstuben schmückten helle Vorhänge, die wenigen, rau verputzten Wandstücke schimmerten zwischen den Fenstern pastellgrün, der Rest war weiß. Auf einigen alten Bodenfliesen, die zwischen Braun und Grün changierten, hatten sie Überbleibsel von Jagdmotiven, Fährbetrieb und Weinlese frei geschrubbt. Diese Betriebsamkeit zu seinen Füßen betrachtete Fred als gutes Omen und war zuversichtlich, sein Lokal in ein fruchtbares Refugium verwandeln zu können.

      Mit straffer Hand trieb Fred sein Personal durch die Saison. Die Löhne waren knapp bemessen, aber gerade zuviel, um sich zu beschweren. Der Umgangston war trocken, was aber keiner aus der Belegschaft persönlich nahm – bisher hatte niemand Fred Keller mit einem Bekannten oder gar einem Fremden in einer besonders freundlichen Gesprächssituation erlebt. Die Schlagzahl war hoch, das Personal hatte freundlich zu sein, auch wenn noch so viele Teller mit paniertem Saumagen und hausgemachtem Kartoffelsalat aus der Küche in den historischen Innenhof getragen werden mussten.

      Fred liebte es, abwegige Gerichte anzubieten. Einerseits bescherte ihm die Einfältigkeit der touristischen Vorlieben eine unkomplizierte Essenskalkulation, andererseits nervte es ihn, ja, beleidigte seine Kochkünste, wenn nur etwa 20 Prozent der Gerichte seiner sowieso kleinen Speisekarte bestellt wurden.

      Es war also schwer zu sagen, ob ihn Bosheit dazu trieb, seinen Gästen die üblichen Klassiker völlig verfremdet vorzusetzen. Eine Zeitlang servierte er zum Beispiel frittiertes Schnitzel - in schmale Streifen geschnitten - mit Stäbchen. Wurde unverhofft zum Renner bei Asiaten und weiblichen Kegelgruppen. Die waren verrückt nach Streifenschnitzel und besuchten ihn nur deswegen. Rheinischer Sauerbraten kam in Rouladenform auf den Teller, gefüllt mit Rosinen und Armagnacpflaumen. Die unentbehrliche Soße konnte der Gast unbegrenzt aus einem rechaudbeheizten Fässchen zapfen. Eine Idee, um die ihn einige Kollegen aus dem Gaststättenverband beneideten.

      Irgendwann machte sich das Herz bemerkbar, nach Freds Meinung mehr als nötig. Sein Arzt hatte ihm einen unausweichlichen Herzinfarkt, „wenn nicht sogar einen Schlaganfall“ versprochen, wenn er nicht sofort damit aufhörte, literweise diesen stark gebrühten Kaffee in sich hineinzuschütten, als wäre es Leitungswasser. Er sah Doktor Günther förmlich vor sich stehen: leicht nach vorn gebeugt, die Hände - damit sie nicht ständig beschwörende Gesten vor Fred in die Luft malten - die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Doktor Günther meinte es ernst.

      „Trinken Sie gefälligst Tee!“ Als ob das automatisch zu einer gemäßigten Lebenshaltung führte. „Teetrinker sind gemütlichere Menschen“.

      Verdammt nochmal! Was denkt der eigentlich? Ich bin 35, mein Laden brummt und ich bin topfit.

      Das war vor drei Monaten.

       Okay, bin momentan etwas wackelig auf den Beinen, aber ist das ein Wunder? Es stirbt einem doch nicht alle Tage der Vater weg. Und dieses schreckliche Haus, dieses Haus will mich wohl unter die Erde bringen.

      Mit dem schwelenden Kaffeedampf verteilten sich Freds Gedanken im Raum.

       Die Muttererde. Hatte Vater immer gesagt. Soweit wird´s nicht kommen. Den Gefallen tu ich dir nicht, mein Lieber. Reicht schon, daß du Mutter auf dem Gewissen hast.

      Fred musste seinem Arzt Recht geben. Ganz munter fühlte er sich wirklich nicht. Schlief fast jeden Tag bis mittags und gönnte sich lange Ausfahrten über den Bodensee, zumindest über den schmalen Ausläufer vor seiner Tür. Das reichte. Saß gerne im Garten, einfach so, geradeaus schauen – um sich leider oft zu ärgern, weil er sein Hirn einfach nicht ausschalten konnte.

      Irgendwann wurde ihm langweilig, da fing er eben an, die Wirtsstube zu putzen, die hatte es wirklich nötig. Wischte Staub vom Mobiliar, das genauso gut im Lager eines Gebrauchtmöbelladens stehen könnte. Der Staub hing an den Tischen, er klebte nicht nur durch die Bier- und Weinspritzer an den welligen Oberflächen, er gehörte dazu, wie aus lieber Gewohnheit. Der Gewohnheit, seit mehr als langer Zeit wieder und wieder von den gleichen Leuten die immer gleichen Geschichten zu hören, gewollt oder nicht.

      Wann fing es wohl an aufzuhören?

      Daß keine Geschichten mehr zu hören waren, weil sich einfach niemand mehr finden wollte, der hinreichend abgestumpft oder dem Wirt freundschaftlich genug verbunden war, kostbare Feierabendzeit beim mürrischen Konrad zu verbringen. In den Ritzen der gescheuerten Tische versickerte kein Tropfen Selbstgebrannter mehr, kein raues Lachen drückte die Nikotinschwaden gegen die gekalkten Wände, keine abgegriffenen Schafkopfkarten, die gewinnsüchtig auf den Tisch geschmettert wurden, als könne schon allein die bessere Schlagkraft den gegnerischen Reizer beeindrucken.

      Nach achtzehn Jahren ohne familiären Kontakt konnte Fred Keller nicht ahnen, wie alltagsuntauglich sein Vater gewesen war. Wie er jede Begegnung minimierte. Nur mit niemandem reden, sich nicht erklären. Als wäre jeder Satz eine schmerzhafte Auseinandersetzung mit dem Leben.

      Konrad Keller war allein.

      Fred

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