Der Zarewitsch. Martin Woletz

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Der Zarewitsch - Martin Woletz

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ragten aus den unzähligen Silberschalen und Silbertabletts hervor auf denen die teuersten Delikatessen angerichtet waren. Josef Iwanowitsch hatte seine Clanchefs versammelt. Es waren dreizehn Jahre vergangen, seitdem in dieser Runde Alexander Poroschenko den goldenen Löffel abgegeben hatte. Der Pate musste schwere Entscheidungen treffen und er hatte sie getroffen. Josef Iwanowitsch war in diesen dreizehn Jahren ein anderer Mensch geworden. Seine Frau und sein älterer Sohn waren tot, nur Jurij war ihm noch geblieben. Er war sein ganzer Stolz gewesen, ein würdiger Nachfolger, dem er das Imperium übergeben wollte. Jurij hatte ihn nie enttäuscht. Er hatte die zweite Route für den Menschenhandel erfolgreich aufgebaut und mehrere andere Clans im Ausland übernommen. Josef Iwanowitschs Geschäfte hatten der Familie Millionen Dollar und Euro gebracht. Sie waren nahezu unangreifbar geworden. Der Junge kam ganz nach seinem Vater.

      Doch vor zwei Wochen brach die Welt des Josef Iwanowitsch, die Welt des größten Unterweltbosses östlich der Donau zusammen. Er musste erfahren, dass sein einziger und geliebter Sohn einen folgeschweren Fehler begangen hatte. Er hatte Menschen vertraut, die ihn belogen und hintergangen hatten. Wenn man seinen Mitarbeitern nicht mehr vertrauen konnte, war eine Organisation verwundbar geworden. Jederzeit konnte ein Angriff auf die Familie erfolgen. Jurij hatte einen Zeugen am Leben lassen. Und noch dazu einen Zeugen, an den im Moment niemand aus der Organisation herankam. Er hatte sich außerhalb des Einflussbereiches von Josef Iwanowitsch niedergelassen und konnte dort in aller Öffentlichkeit leben. Auch wenn das Jahre her war, gab es einen Umstand, der Josef Iwanowitsch zum Handeln zwang: der Zeuge war ein ehemaliger Widerstandskämpfer in Bulgarien gewesen und jetzt wieder zu einem Polizisten geworden, zu einem Mafiajäger. Josef Iwanowitsch hatte zwei Wochen mit sich gerungen, doch er konnte nicht anders. Er musste durchgreifen, musste sein Lebenswerk schützen. Sein Lebenswerk war das Einzige, was ihm – außer Jurij - noch geblieben war. Was nach seinem Tod damit geschehen würde, war ihm nie gleichgültig gewesen. Doch nun hatte alles keine Bedeutung mehr. Er hatte versagt, würde das Unternehmen nicht in der Familie weitergeben können. In seiner Welt ging es immer ums Überleben. Oft fühlte er sich wie in einem Rudel wilder Tiere. Er war der Leitwolf, umgeben von jungen hungrigen Wölfen, die nur darauf warteten, den Leitwolf töten und das Rudel übernehmen zu können. Noch hatte er die Kraft, sich gegen die Jungen durchzusetzen. Doch nun war das letzte Jungtier im Rudel, der eigentliche Nachfolger, zur Belastung für das Rudel geworden. Er musste seinen Sohn, seinen Nachfolger töten, wenn er nicht selbst getötet werden wollte. Er musste die Clanchefs zusammenholen, Stärke demonstrieren, auch wenn er nun seinen zweiten und letzten Sohn opfern musste um überleben zu können. Um den Clanchefs zu zeigen, wer noch immer das Rudel anführte. Er durfte keine Schwäche zeigen! Josef Iwanowitsch zerriss innerlich, als er diese Entscheidung traf. Er verzweifelt, dann heulte er laut und lang, schauerlich wie ein alter sterbender Wolf in die Nacht.

      Es sollte eine große Feier werden. Niemand würde wissen, was er tatsächlich vorhatte. Somit konnte er sich selbst und die Firma schützen. Wenn das erledigt war, würde er sich den Verräter und anschließend den Zeugen, diesen beschissenen, verfluchten bulgarischen Bullen vornehmen.

      Die Creme de la Creme der russischen Unterwelt labte sich ausgiebig. Josef Iwanowitsch hatte ihnen eine wichtige Entscheidung angekündigt. Sie ahnten, dass Jurij Josifowitsch nun die Geschäfte übernehmen würde und freuten sich insgeheim, dass die Übergabe ohne Blutvergießen über die Bühne gehen würde. Es war ein Grund zum Feiern, denn mit Jurij Josifowitsch an der Spitze würde die Macht der Familie weiter wachsen. Davon waren die Clanchefs überzeugt. Und mehr Macht für die Jokovs bedeutete mehr Sicherheit für jeden Einzelnen von ihnen.

      Jurij hatte ebenfalls gegessen und bereitete sich nun innerlich auf die große Überraschung vor. Er war sich sicher, dass ihm sein Vater heute das Imperium übergeben würde; er würde nicht darum kämpfen müssen. Das war gut. Nun konnte er für immer zurück nach Russland. Das Land, das er so liebte, weil er hier aufgewachsen und groß geworden war. Heute Abend wollte er noch in seinen alten Club gehen und feiern. Nach der Feier würde er dann die Geschäfte übernehmen und sich endlich auf seine Weise um die Miliz und die Politiker kümmern, die Jagd auf ihn und seinen Vater gemacht hatten. Er würde ein Exempel nach dem anderen statuieren und die Gegner vernichten.

      Jurij nahm einen großen Schluck Wodka aus dem Kristallglas und goss sich wieder nach. Er blickte in die Runde und musterte die Clanchefs. Wie vor dreizehn Jahren saßen sie um den Tisch, schlugen sich den Bauch voll und fuhren dann wieder in ihre Provinzen. Tausende Kilometer weit weg um die Geschäfte der Jokovs zu überwachen. Aber wer wusste schon, was sie wirklich taten? Vielleicht stopften sie sich auch selbst die Taschen voll und gaben nur einen Bruchteil der Einnahmen weiter? Vater hatte immer seine Kontrollen gemacht und es war nie etwas vorgefallen. Aber der Mann war jetzt alt, fast achtzig Jahre, und vielleicht waren die Clanchefs schon zu selbständig geworden. Jurij dachte nach und kam zu dem Schluss, dass er die Kontrolle ausweiten würde. Ihn würden sie nicht bescheißen können. Seinen Vater vielleicht, doch ihn nicht. Er würde sie gnadenlos töten, wenn sie sich auf seine Kosten ein schönes Leben machen sollten. Das schwor er sich, als er das nächste Glas Wodka leerte. Sein Cousin hatte einen Toast auf die Familie ausgebracht und alle Anwesenden hatten sich erhoben. Als Jurij in die Runde blickte, kam ihm irgendetwas ungewöhnlich vor. Sein Vater hatte den Platz an der Stirnseite, dann folgten links und rechts der Tafel die Clanchefs. Jurij hatte den Platz gegenüber seinem Vater. Irgendwie hätte Jurij die Sitzordnung anders gestaltet, aber es war egal. Schließlich sollte noch am selben Abend sein Platz jener an der Stirnseite sein. Und nur darauf kam es an.

      "Der heutige Tag wird ein entscheidender Tag für unser Unternehmen." Josef Iwanowitsch hatte sein Glas erhoben und mit seiner Gabel dagegen geschlagen. Es war Zeit für seine Rede.

      "Ihr wisst, dass es an der Zeit ist, die Weichen für uns alle neu zu stellen. Natürlich fragt ihr euch, ob der alte Mann an der Spitze bleiben wird. Natürlich fragt ihr euch, ob Jurij Josifowitsch mein Nachfolger wird. Natürlich fragt ihr euch, warum wir heute hier zusammen sitzen."

      Er blickte in die Runde und sah in die angespannten Gesichter seiner engsten Freunde. Als er das Gesicht von Jurij erblickte, blieben seine Augen an ihm hängen.

      "Unsere Organisation ist groß geworden, weil wir immer in der Lage waren, unsere Freunde zu überreden mit uns zu arbeiten. Wir haben unsere Feinde bezahlt um für uns zu arbeiten. Nur von einigen wenigen Unbelehrbaren mussten wir uns auf Dauer trennen. Das waren jene, die wissentlich oder unwissentlich gegen uns gearbeitet oder die Organisation dadurch gefährdet haben. Ihr erinnert Euch an Alexander Poroschenko? Ich habe ihn wirklich geliebt."

      Jurij hörte seinem Vater genau zu. Wieder stieg eine unbewusste Ahnung in ihm hoch, dass diese Feier nicht ganz so ablief, wie er es sich schon oft in seinen Gedanken vorgestellt hatte. Warum musste er jetzt die alte Sache mit Alexander wieder ausgraben? Jurij versuchte seinem Vater zu folgen, doch er verstand nicht, warum er an diesem Tag von Menschen sprach, die Fehler begangen hatten und dafür mit ihrem Leben bezahlen mussten. Wenn es aber schlussendlich dazu führte, dass er in wenigen Augenblicken von seinem Vater zum Oberhaupt der Firma ernannt werden würde, sollte es auf den genauen Wortlaut in der Laudatio nicht ankommen.

      "Ich hatte beschlossen, Jurij Josifowitsch zu meinem Nachfolger zu ernennen und ich erwarte, dass ihr alle ihm folgt und euer Leben für ihn gebt."

      Jurij schluckte. Nun war es soweit! Sein Vater hatte die Worte ausgesprochen, auf die er seit Jahren gewartet hatte. Er war so aufgewühlt und begeistert, dass er die kommenden Worte kaum mitbekam.

      "Umso schlimmer ist es für mich, als ich vor kurzem erfahren musste, dass ausgerechnet Jurij dafür verantwortlich ist, dass ein gefährlicher Zeuge am Leben gelassen wurde. Dieser Zeuge könnte unserer Organisation erheblichen, massiven Schaden zufügen."

      Die Stimmung am Tisch kippte. Josef Iwanowitsch sprach die Worte ganz leise, bedeutsam und langsam aus. Wieder blickte er durch die Runde. In den Gesichtern der Männer stand Furcht, teilweise blankes Entsetzen, denn es war ihnen allen klar, dass Josef Iwanowitsch nun nicht anders konnte, als

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