Der Zarewitsch. Martin Woletz

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Der Zarewitsch - Martin Woletz

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Augen und begriff kaum, was hier gerade geschah.

      "Nicht nur die Tatsache, dass du, Jurij Josifowitsch, uns durch deine Leichtsinnigkeit in große Gefahr gebracht hast, sondern auch die Art und Weise, wie ich es erfahren musste - nämlich durch den Verrat eines deiner eigenen Männer an Dir – lässt mir keine andere Wahl!"

      Als er das letzte Wort gesprochen hatte, zog er eine Waffe aus seinem Sakko und richtete sie auf seinen Sohn. Die Männer, die um die Tafel saßen, sprangen wie von der Tarantel gestochen von Ihren Stühlen auf und versuchten sich einigermaßen in Deckung zu bringen. Nur Jurij war sitzen geblieben und sah seinem Vater ins Gesicht.

      "Willst Du mich jetzt erschießen Vater? Ist es das, was Du beschlossen hast? Du alter Narr! Wenn Du mich erschießt, sind die Familie Jokov und alles, was Du und ich aufgebaut haben, verloren. Du hast keinen Schutz mehr und diese Hyänen... -", er deutete auf die Oberbosse, die mit offenen Mäulern hinter ihren Stühlen standen oder sich in Türnischen pressten, "...- werden Dich noch heute in der Luft zerreißen! Du wirst noch miterleben, wie Dein Lebenswerk auseinandergerissen wird, und erst dann werden Sie Dich in der Gosse verrecken lassen." Jurij war langsam aufgestanden. Er hatte jeden Muskel angespannt und fixierte nun den Zeigefinger seines Vaters, der um den Abzug gebogen war. Die Hand seines Vaters zitterte leicht. Sobald er nur ein Zucken sah, würde er sich in Deckung bringen. In seinem Kopf pochte das Blut. Fieberhaft überlegte er einen Fluchtplan. Er blickte aus den Augenwinkeln zu den Türen und Fenstern des Saales und versuchte die Entfernungen zu den einzelnen Öffnungen abzuschätzen. In jeder Richtung waren es weniger als drei Meter bis er ein vorläufiges Versteck finden konnte. Sein Vater hatte den Ablauf offensichtlich genau geplant und ihm die Flucht so schwer als möglich gestaltet. Nun wurde ihm die Sitzordnung auch klar. Dieser verfluchte alte Mann!

      "Das ist mir egal! Ihr habt alle jahrzehntelang von meinen Erfolgen und Entscheidungen profitiert! Ihr habt Euch die Taschen gefüllt und Euch und Euren Vertrauten ein schönes Leben gemacht. Damit ist Schluss! Ein für alle Mal! Ich habe es satt und werde das alles hier und jetzt beenden!" Josef Iwanowitsch hob den Revolver unmerklich und zielte direkt auf das Herz seines Sohnes. Auch er war komplett angespannt und musste alle Kraft, die noch in seinem alten Körper steckte, aufwenden, um die Waffe einigermaßen ruhig zu halten. Zwischen ihm und seinem Sohn lagen höchstens sieben oder acht Meter. Der Alte war zwar kein guter Schütze, aber auf diese Entfernung würde er ihn in jedem Fall treffen. Und wenn sein Sohn nicht nach dem ersten Schuss tot war, dann musste eben ein zweiter oder sogar dritter Schuss her. Josef Iwanowitsch wusste, dass es kein Zurück mehr gab. In dem Augenblick, in dem er die Waffe gegen seinen Sohn erhoben hatte, wurden sie zu Totfeinden. Und er wusste auch, dass er es war, der sterben würde, wenn er Jurij nicht ausschalten konnte. Jurij würde keine Skrupel haben, seinen Vater genauso kalt abzuknallen, wie er schon seinen Bruder getötet hatte. Er selbst hatte ihn so erzogen.

      "Vater, nimm die Waffe runter und lass uns reden. Wir können die Sache aus der Welt räumen. Ich hatte keine Ahnung davon, dass es einen Zeugen gibt. Wofür überhaupt einen Zeugen und wer ist er?"

      "Du hast einen Mann laufen lassen, der Dich in Bulgarien bekämpft hat. Sein Name ist Konstantin Korelev. Erinnerst Du Dich an Ihn?"

      Natürlich erinnerte sich der Zarewitsch an die Korelevs. Den Vater, den Bruder und den Onkel hatte er noch im Kampf getötet, die Mutter und die Schwester hatte er seinen Männern überlassen und Konstantin selbst mit den Illegalen wegbringen lassen. Seine Leute hatten ihm nichts davon gesagt, dass er überlebt hatte. Im Gegenteil, sie hatten ihm bestätigt, dass er tot war. Sie hatten ihn belogen. Seine eigenen Leute hatten ihn belogen! Eigentlich hatte ihn nur einer belogen. Die anderen hatten geschwiegen. Das war eine Schande und nun verstand er seinen Vater. Er selbst würde jeden töten, der einen solchen Fehler zuließ. Eine ungeheure Wut stieg in ihm hoch.

      "Ja, ich weiß, wer Korelev ist. Meine Leute haben ihn mit den anderen Illegalen mitgenommen und am Ziel angeblich liquidiert. Daraufhin haben wir den Endpunkt verlegt und damit war Ruhe."

      "Ja, seitdem war Ruhe, Jurij. Aber wie lange noch. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Bulgare in der Lage ist nach seiner Familie zu suchen und uns dann ein ganzes Heer von Milizbeamten und Soldaten auf den Hals hetzt."

      "Ich habe Dir immer wieder gesagt, Du musst mit diesen Aufwieglern kurzen Prozess......"

      "Halt den Mund, Jurij", fiel ihm sein Vater ins Wort.

      "Du willst immer Krieg führen! Du bist ein Idiot! Krieg schwächt zwar den Gegner, aber wir werden auch Verluste erleiden. Und niemand weiß, wer am Ende siegen wird - und zu welchem Preis."

      Jurij war es in der Zwischenzeit gelungen, eine Ecke des Tischtuches in seine Finger zu bekommen. Von den Männern war keiner nahe genug, dass er sich hinter ihm verstecken konnte. Er hätte jeden der Männer - egal wie nahe verwandt oder auch nicht - jederzeit als Schutzschild missbraucht. Sein Plan war simpel.

      "Vater, ich bringe das in Ordnung und dann können wir alles Weitere besprechen. Wenn ich tot bin, ist alles vorbei. Siehst Du das nicht ein?" Jurij versuchte seinen Vater einzuwickeln und Zeit zu gewinnen. Er hatte vielleicht zwei oder drei Sekunden für seine Flucht. Er durfte in keiner Phase zögern. Ihm war klar, dass ihn sein Vater töten würde. Anderenfalls würde Jurij seinen Vater töten. Das wusste der auch.

      "Komm Vater...gib mir die Waffe... oder gib sie einem der Männer. Wir klären das. Ich kümmere mich um den Zeugen und um die Verräter. Ok, Vater?"

      Noch bevor Josef Iwanowitsch antworten konnte, hatte der Zarewitsch das Tischtuch gepackt und mit beiden Händen hochgerissen. Geschirr und Essen flogen durch die Luft und prasselten auf seinen Vater nieder, der kurz die Hand schützend vor den Körper hielt. Genau diesen Augenblick hatte Jurij abgewartet und hechtete mit zwei gewaltigen Sprüngen zu der Türe, die hinter ihm in einen kurzen Gang führte. Noch bevor sein Vater begriffen hatte, was geschehen war, hatte Jurij die Türe aufgerissen und rannte in den Gang. Hinter ihm krachte ein Schuss und er hörte das Holz des Türrahmens splittern. Mit einem kurzen Befehl hatte Josef Iwanowitsch den Männern befohlen, seinen Sohn zurückzubringen. Jurij riss das nächste Fenster auf, kletterte auf das Fensterbrett und ließ sich fast zwölf Meter in den See fallen, der wie ein Burggraben um drei Seiten des Haupthauses angelegt worden war. Als er ins Wasser tauchte, waren seine Verfolger bereits beim Fenster angekommen. Neben ihm durchzogen Kugeln das fast schwarze Wasser. Er tauchte so tief er konnte und schwamm nur knapp über dem schlammigen Grund zick-zack bis seine Lungen zu brennen begannen. Als er am anderen Ufer angekommen und bereits knapp davor war, die Besinnung zu verlieren, tauchte er vorsichtig auf. Eigentlich hätte er einen Kugelhagel erwartet, doch nichts geschah. Die Männer vom Fenster waren verschwunden. Wahrscheinlich jagten sie gerade die Treppen herunter und hatten vor, den Burggraben zu umstellen. Jurij holte tief Luft, tauchte zurück zur Hausseite, an der er sich bis zur Südwestecke des Gebäudes handelte und dann wieder zum anderen Ufer zurückschwamm. Auch wenn die Strecke nicht weit war, kam es ihm vor als wäre er Minuten unter Wasser gewesen. Er hatte einen Bereich des Grabens erreicht, der dicht mit Schilf bewachsen war. Vorsichtig bewegte er sich durch das Schilf und erreichte kurze Zeit später das Ufer. Er spähte über den Rasen und hörte die Männer, die nicht weit von ihm bereits das Ufer absuchten. Wenn er die dreißig Meter über die Wiese schaffte, konnte er sich durch den angrenzenden Wald bis zur Grundstücksgrenze arbeiten. Er würde sich das nächste Auto schnappen und untertauchen. Jurij sprang aus dem Wasser und lief über die Wiese. Durch die einsetzende Dunkelheit schaffte er die Hälfte der Strecke unbemerkt. Erst knapp vor dem Waldstück vernahm er die Rufe seiner Verfolger. Kurz danach hörte er wieder Schüsse, die aber relativ weit an ihm vorbei gingen. Im Wald konnte er seine Verfolger wieder abschütteln. Nach einem kurzen Sprint erreichte er die Grundstücksmauer. Noch einmal blickte sich Jurij kurz um, um festzustellen ob er noch in unmittelbarer Gefahr schwebte. Doch er konnte keinen Verfolger mehr entdecken. Jurij kletterte auf die Mauer, sprang auf der anderen Seite herunter und lief in Richtung Straße. Ihm war, als hörte er bereits ein Auto, das sich rasch näherte.

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