Wilde Zeiten - 1970 etc.. Stefan Koenig

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Wilde Zeiten - 1970 etc. - Stefan Koenig Band 2

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      So lagen wir halbnackt, vor Erregung glühend, auf dem dicken Florteppich jener einsam und verlassen daliegenden Chefetage, die wohl erstmals solch einen menschelnden Jahreswechsel erlebt hatte. Auf diesem einladenden Teppich hatten es die hohen Herren des Establishments gewiss noch nie getrieben – höchstens in Gedanken. Aber konnten wir es wirklich wissen? Wie viele Male hatte vielleicht einer der hier residierenden Manager seine Sekretärin verführt und machtbesessen geknallt? Macht und Sex. Männliche Skrupellosigkeit und weibliche Sehnsucht. Gegenseitige Ausnutzung oder Missbrauch von Lohnabhängigen? Ich wollte nicht daran denken, nicht jetzt.

      „Es ist gut, dass auch Chefetagen keine Tagebücher schreiben“, sagte ich. Karin hatte mir gestern erzählt, dass sie kein Tagebuch mehr schreibe. Das sei kindisch. Ihre politische Arbeit erfordere ihre ganze Kraft und man dürfe sich nicht in belangloser Privatheit verzetteln. Ich war mir sicher, dass diese Chefetage unser Geheimnis bewahren würde – bis in alle Ewigkeit, unvergessen.

      „Tagebücher schreiben nur völlig unterbeschäftigte Kindsköpfe“, sagte Karin. Da wusste ich noch nicht, dass sie mich gerade anlog.

      Wir schmiegten uns aneinander und schauten hinaus in die hell erleuchtete geteilte Stadt, deren Himmel in diesen Minuten im Feuerwerksreigen vereint war. Wir drückten uns noch enger aneinander, glücklich, überglücklich. Ohne Sekt, ohne formelles Prost Neujahr, ohne unsere WG-Freunde; das war schon merkwürdig. Hätten wir wenigstens einen kleinen Transistorradio, wie er gerade trendy war. Ein paar Melodien. Abseits der Gedanken zum Jahreswechsel und all den guten Vorsätzen, die jetzt langsam mein Hirn zu fluten begannen. Nur ein paar Songs. Vielleicht unsere Liebeshymne „Je t’aime … moi non plus“. Oder „Love is love“ von Barry Ryan. Oder „Hey Jude“ von den Beatles aus 1968.

       Und jedes Mal, wenn's weh tut/Hey Jude, dann halt ein/Trag' nicht die Welt auf deinen Schultern/Du weißt ganz genau, es ist ein Narrenspiel/Sich seine Welt unnötig kälter zu machen/Na na na, na na, na na na/Hey Jude, enttäusch' mich nicht/Du hast sie gefunden, nun geh' und hol sie dir/Denk' dran, lass sie hinein in dein Herz/Dann kann's los geh'n - mach's jetzt besser.

      So genossen wir auch ohne Mucke unsere Zweisamkeit und unser kleines Abenteuer auf diesem hohen Turm der Konsumgesellschaft. Nur das Böllern von draußen war unsere Begleitmusik.

      Wir streichelten uns und knutschten. Im Vergleich zur winterlichen Außentemperatur war es hier warm, doch im Vergleich mit unserer nachlassenden Energie –zusehends geschmälert von unserem nicht weniger energiezehrenden Nachspiel – wurde es langsam kühler und wir begannen zu frösteln.

      „Cheri“, flüsterte ich Karin ins Ohr, „bevor wir frieren, sollten wir gehen.“

      „Ja, ich freue mich jetzt auf ein Schlückchen Sekt zuhause.“

      Ob sich Tommi und Rosi, Rolf und Quiny, und mein treuer Freund Richy noch immer auf der TU-Party rumtrieben?

      „Wenn wir es schaffen, bleiben wir noch wach, bis die ganze Mannschaft kommt, um mit ihnen anzustoßen, ansonsten ...“

      „Fortsetzung, Coco?“ Karin sah mich schelmisch-keck an.

      Ich musste lachen. „Wenn ich bis dahin zaubern kann, gerne.“

      Ich nannte sie seit unserer gemeinsamen „Je t‘aime“-Liebeshymne einfach nur „Cheri“. Und Karin sagte nur noch gelegentlich Kara zu mir, lieber nannte sie mich seit Kurzem „Coco“.

      „Kara haben dich die Girls von deiner Bier- und Badeclique genannt. Hieß dein Lieblingsbier damals nicht Karamalz?“

      Ich nickte.

      „Coco, die Zeit ist passé. Kara ist Vergangenheit.“

      „Die meisten nennen mich aber immer noch so. Ist ja auch okay, denn Coco können sie ja wohl kaum sagen, ohne dass du ihnen auf die Finger klopfst!“

      Der 90er Bus kam und wir stiegen am Kudamm, Busstation Gedächtniskirche, gegenüber vom neonbeleuchteten KaDeWe, ein. Der Bus war leer. „Prost Neujahr!“, sagte ein ziemlich junger Busfahrer, was wir erstaunt erwiderten. Für so viel Freundlichkeit waren Westberlins Busfahrer eigentlich nicht bekannt. Der Mann trug eine bunt gecheckte Weste und an seinem rechten Handgelenk baumelten die kurzen Strippen eines farbigen Handreifes, wie man ihn in Jamaika trug.

      Völlig untypisch, dieser Busfahrer. Das musste jene berühmte Ausnahme sein, die die Regel bestätigt. Oben im Doppeldeckerbus saßen wir ganz vorn und schauten uns die kurfürstliche Prachtstraße mit ihren glitzernden Schaufenstern an.

      Karin stupste mich an. „Weißt du, was mir gerade einfällt? Ab heute steht dir beim Solidaritätsverband im Krankheitsfall Lohnfortzahlung zu. Wenn du mal krank wirst, kriegst du trotzdem Kohle. Wusstest du das?“

      „Ja, hab‘ ich auch vor ein paar Tagen gelesen.“ Da gab es im Tagesspiegel eine Neujahrsrubrik: Was sich 1970 ändert. „Du weißt aber schon, dass ich kein Angestellter bin. Ich sammle die Altkleider als Kleinunternehmer für einen gemeinnützigen Verein und bin weder sozialversichert, noch habe ich auf irgendwas einen Anspruch. Hier geht es ganz allein um Unterstützung des vietnamesischen Befreiungskampfes“, antwortete ich mit hochpolitischem Unterton. „Aber gut, dass sich was ändert!“

      Es stimmte, allmählich tat sich was in Grauland. In diesem Fall konnte man es als arbeitnehmerfreundliches Zugeständnis bezeichnen. Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter war eine neue, von den Gewerkschaften erkämpfte soziale Errungenschaft. Nun standen zumindest sie und die Angestellten nicht mehr im Regen, sondern erhielten sechs Wochen lang ihren Lohn weiter ausbezahlt.

      „Willst du unter so ungesicherten Umständen weiter für den Solidaritätsverband arbeiten?“

      „Cheri, ich baue den Verband hier in Westberlin gerade erst auf, bin noch ganz am Anfang. Ich kann doch nicht gleich etwas fordern, wenn noch nicht einmal der erste Eisenbahnwaggon mit Klamotten beladen ist!“

      *

      Während wir unsere Busgespräche führten, zofften sich Rolf und Quiny auf der Uni-Fete. Das reihte sich wohl ein in jenes derzeit recht bekannte Neujahrs-Szenario – auch oder gerade für uns Freigeister: Jahreswechsel hieß allzu oft auch Partnerwechsel. Quiny hatte eine Stunde vor Mitternacht im studentischen wie im nichtstudentischen Gewimmel Rolf aus den Augen verloren. Zum Abhotten zog es sie auf die Tanzfläche. Da traf sie auf Wolle, einen lange begehrten Jugendfreund, der sie antanzte und gestand, dass er froh sei, nun endlich für sie frei zu sein. Den Neujahrstrunk gönnten sich die Zwei einsam aber gemeinsam. Als Rolf die beiden auf der Suche nach Quiny in einer dunklen Ecke entdeckte, knutschend und fummelnd, war das Ding gelaufen.

      „Was soll das denn? Sieht so die freie Liebe aus?“

      Quiny sah ihn kühl an und sagte: „Genauso ist es. Ich liebe Wolle.“

      Wolle lächelte mild und meinte, sie hätten gerade etwas beschlossen. „Wir ziehen zusammen und bleiben bis März in Berlin.“ Danach wollten sie mit seinem Bulli nach Torremolinos und für ein Jahr als Hippies leben.

      „Ich wünsche dir Frieden und eine reine Seele!“, sagte er zu Rolf, der sich samt reiner Seele umdrehte und wortlos im Dunst aus Räucherstäbchen und Zigarettenqualm verschwand.

      Karin und ich erfuhren hiervon erst am nächsten Mittag, dem Neujahrstag. Aber im Moment saßen wir noch ahnungslos im Bus und sprachen über unsere eigene Jahresplanung. Karin wollte statt Urlaub zu machen lieber die proletarische

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