Wilde Zeiten - 1970 etc.. Stefan Koenig

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Wilde Zeiten - 1970 etc. - Stefan Koenig Band 2

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freundliche Ostpolitik konnte dem inneren wie äußeren Frieden nur nützlich sein. Für viele Erzkonservative war das aber zunächst verwunderlich. Doch große Teile der Bevölkerung waren des langen Wartens auf ein Zeichen der überfälligen Grenzöffnungen müde und wollten endlich eine realistische Politik.

      Mein guter altsozialdemokratischer Vater Otto schrieb in einem Brief Anfang Januar: „Mein lieber Sohn, es wird Zeit, dass man verhandelt. Das finde ich gut an unserer neuen Regierung. Jedem Vernünftigen muss klar sein, dass man die Existenz eines zweiten deutschen Staates nicht wegwischen und übersehen kann …“

      Ich hätte ja gerne gewusst, welcher Partei meine Eltern im September letzten Jahres bei der Bundestagswahl ihre Stimme gegeben hatten. Ob sie Willy Brandts SPD gewählt hatten? Als ich Vater gefragt hatte, berief er sich auf das Wahlgeheimnis: „Das nehme ich ernst!“

      Mutter sagte, dass sie nach dem Wahlgang traditionsgemäß ins Wirtshaus gegangen seien. „Weißt du, was ich da gewählt habe? Rippchen mit Sauerkraut!“

      Otto schrieb noch etwas zur neuen Ostpolitik, was ich gut fand: „Brandt macht eine Politik des Realismus. Das ist längst überfällig. Auch die Aussöhnung mit den Russen. Wir haben denen viel Leid zugefügt. Und der ostdeutsche Staat ist ein Produkt des Nazi-Krieges. Man muss das anerkennen, man muss den Tatsachen ins Auge sehen.“

      Tja, den verdammten Tatsachen ins Auge sehen. Das fällt manchmal schwer. Insbesondere, wenn es um die Liebe geht. Irgendwann später rief Quiny an. Erst war Rolf am Apparat. Ein Gedöns machte der! „Blöde Schlampe! – Wortbrüchiges Luder! – Untreues Weib! – Bleib wo der Pfeffer wächst!“, brüllte er in den Hörer. Ich befürchtete, dass er unseren teuren neuen Telefonapparat auf den Boden pfeffern könnte und machte ihm ein Handzeichen, mich ran zu lassen und sich zu beruhigen.

      „Mach mal auf Entspannungspolitik!“, rief ich ihm zu. Er zog eine Fratze, gab mir den Hörer und verzog sich in sein Zimmer, ließ aber die Tür einen Spalt offen.

      „Kannst du Rolf bitten, dass er meine Sachen zusammenstellt, damit ich sie morgen abholen kann?“, fragte Quiny. Ihre Stimme zitterte ein wenig. „Weißt du, im Moment kann ich nicht vernünftig mit ihm reden.“

      „Ich versuch‘ mein Bestes“, beruhigte ich sie. „Ich bin jedenfalls da. Vielleicht hat Rolf morgen eine Verabredung …“. Das sagte ich besonders laut in Richtung der angelehnten Tür. „Dann braucht ihr euch nämlich nicht zu begegnen und eure emotionalen Tretminen werden nicht scharf gemacht.“

      Apropos Minen: Willy Brandt würde der DDR-Regierung Verhandlungen über eine Entschärfung der sogenannten Todesgrenze und über beidseitige Gewaltverzichts-Erklärungen vorschlagen, berichtete entrüstet ein CDU-INTERN-Pamphlet; das war so etwas wie eine stille Post für konservative Scharfmacher. Das wäre doch Verrat. Purer Verrat!

      Wie konnte Gewaltverzicht Verrat bedeuten, fragte ich mich. Was ging in diesen schwarzen Hirnen alles schief? Waren da irgendwelche Minen im Oberstübchen explodiert?

      Als Quiny kam, um ihre Sachen abzuholen, war Rolf tatsächlich unterwegs. Wolle wartete diskret unten in seinem VW-Bulli. Ich half Quiny beim Runtertragen und setzte mich noch eine Weile zu den beiden in den Bus, nachdem Wolle um die Ecke gefahren war, falls Rolf vorzeitig zurückkommen würde. Aus Wolles Transistorradio lief „Goodbye Ruby Tuesday“ von den Rolling Stones:

       Es ist keine Zeit zu verlieren,/ hörte ich sie sagen./Erfülle deine Träume, bevor sie entschwinden./ Die ganze Zeit sterben./Deine Träume verlieren./Und du wirst den Verstand verlieren./Ist das Leben nicht lieblos?/Lebwohl, Ruby Tuesday,/wer könnte dir einen Namen geben,/ wenn du dich veränderst mit jedem neuen Tag?/ Ich vermisse dich immer noch.

      Gerade in diesem Moment sahen wir Rolf weit vorn zum Hauseingang unserer WG schleichen. Man sah ihm an, dass er etwas vermisste, was ihn sichtlich bedrückte. Kurz vor ihm schlich in seiner etwas schäbigen Hochwasser-Hose ein anderer Schleicher, der unscheinbare Eigentümer der Clausewitzstraße 2, unser Vermieter, Herr Brat. Erst kurz vor Weihnachten hatte er mir im Zusammenhang mit dem Selbstmord meines früheren Grundschulkameraden Joschi, der wie er Mitglied der Jüdischen Gemeinde von Westberlin war, seine eigene Leidensgeschichte erzählt. Und dass sein millionenschweres Immobilien-Erbe all das nicht wettmachen könne, was sich nachts in seinen Albträumen abspiele.

      Er schien sehr großes Vertrauen in mich zu setzen, weil er mir sein hartes, grobes Äußeres im Kern als Ausdruck seiner inneren Zerbrechlichkeit offenbarte. Ohne es bei ihm auszusprechen und ohne es jemals bei meinen Mitbewohnern anzusprechen, interpretierte ich es so: Ich hatte eine Art Nervenzusammenbruch dieses alten Mannes miterlebt. Seine harte Hand, seine dauernde juristische Peitsche gegen seine Mieter waren Ausdruck einer völligen Zerrissenheit und Projektion all seiner Ängste, vielleicht auch seines Eigenhasses.

      Sein karges einsames Leben erhielt für ihn offenbar nur Sinn durch ein gnadenloses Regiment gegenüber den von ihm Abhängigen. Denn wann immer ich zu ihm kam, klagte er darüber, gegen wen und warum er schon wieder Klage einreichen müsse. Klagen bestimmten sein Leben. Später erinnerte es mich ein wenig an die Aggressionspolitik der verschiedenen israelischen Regierungen gegenüber den von ihr abhängigen Palästinensern. Es mochte ein schiefer Vergleich sein – aber so dachte ich eben.

      Ich tippte Wolle auf die Schulter. „Wollt ihr wirklich nach Spanien abzwitschern und ein Hippieleben führen? Job aufgeben und so?“

      „Wir waren eben im Reisebüro am Kudamm, Ecke Olivaer Platz, und haben uns erkundigt. Das wird toll, glaub mir. Aber wir brauchen kein Reisebüro, um unseren Traum zu verwirklichen. Wir brauchten nur den Prospekt. Wir reisen selbst“, sagte Wolle.

      „Wie kamt ihr darauf?“

      Quiny sah mich verschmitzt an. „Das war meine Idee. Weißt du, Kara, im November hatte ich mit Rolf einen Streit, der sich über eine Woche lang hinzog. Eines Tages ging ich bummeln, um etwas Abstand zu gewinnen. Da stand ich plötzlich vor dem Schaufenster dieses Reisebüros. Ein übergroßes Plakat sprang mir ins Auge. Es zeigte vor einer uralten steinernen Windmühle ein lebensgroßes blondes Hippiemädchen im Bikini mit einem durchsichtigen Wickelröckchen, Blumenkränzchen im Haar, bunte Arm- und Fußbänder und im Hintergrund das blaugrüne Mittelmeer. Da standen nur drei Worte: Komm nach Torremolinos!

      Sie war weiter gegangen und ahnte nicht, dass diese erste Begegnung mit Torremolinos das Besondere jenes düsteren November-Bummels war. Doch wieder bei Rolf und seinem Gezeter wegen irgendwelcher Nichtigkeiten angekommen, flüchtete sie sich in ihre Phantasie und sah sich im Sonnenlicht neben einer Windmühle in Spanien stehen. „Anfangs erweckte dieses Traumbild noch keine starke Sehnsucht in mir, lediglich ein paar Überlegungen: Wie sah es dort wohl genau aus? Wie groß war die Stadt? Wo lag sie genau und gab es da viele Hippies?“

      Als Quiny in unserem Gemeinschaftsraum den Weltatlas aus dem Regal nahm, fand sie jedoch kein Torremolinos auf der Spanienkarte.

      „Rolf wollte ich nicht fragen, denn ich hatte vor, mal ohne ihn für eine Weile wegzufahren. Das wusste er aber damals noch nicht. Torremolinos wird sehr klein sein, dachte ich! Nachdem mich der Gedanke an Spanien auch noch in der darauffolgenden Woche verfolgte, nahm ich mir vor, mich näher zu erkundigen.“

      Am Montag nach dem dritten Advent hatte sie dann das Reisebüro betreten und ging auf die Mittdreißigerin hinter dem Beratungstresen zu. Sie war drahtig, brünett, ziemlich klein und schien keine Berlinerin zu sein, denn beim Sprechen stolperte sie eher über einen spitzen Stein.

      „Das Plakat mit Torremolinos … also, das …, also ist das was?“

      „Ich kann ihnen Spanien wärmstens empfehlen“,

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